Ökonometrische Prognosemodelle sind ein wichtiges Hilfsmittel für die kurzfristige Konjunkturanalyse. Das neue Nowcast-Modell des BMWi erstellt tagesaktuelle technische Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung im laufenden Quartal. Für das aktuelle Quartal (Q2 2019) erwartet das Modell einen leichten Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Zukünftig soll der Nowcast regelmäßig in den Schlaglichtern der Wirtschaftspolitik als verdichtete Information zur aktuellen Indikatorenlage veröffentlicht und kommentiert werden.

Person zeigt mit einem Stift auf ein Tablet.

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Wofür brauchen wir einen Nowcast?

Wirtschaftspolitik benötigt zeitnahe und präzise Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung. Um ihre Handlungen auf den jeweiligen Zustand der Volkswirtschaft möglichst zielgenau abstimmen zu können, müssten Entscheidungsträger idealerweise auf Echtzeit-Daten über die wirtschaftliche Entwicklung zurückgreifen können. Dieser Zustand ist allerdings in den seltensten Fällen Realität. Beispielsweise werden die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) vierteljährlich ausgewiesen und mit großer Verzögerung veröffentlicht: Erste amtliche Daten zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) stehen erst 45 Tage nach Ablauf des Referenzquartals zur Verfügung. Details zu den Verwendungskomponenten, zum Beispiel dem privaten Konsum oder den getätigten Investitionen, werden erst nach etwa 55 Tagen veröffentlicht.

Allerdings existiert eine Vielzahl an höherfrequenten Konjunkturindikatoren, die lange vor den Quartalsdaten der VGR vorliegen und somit früher Signale über die wirtschaftliche Entwicklung senden. Dazu gehören zum Beispiel die monatlichen Statistiken zu den Auftragseingängen im Verarbeitenden Gewerbe oder zur Produktion im Produzierenden Gewerbe sowie Umfrageergebnisse wie das ifo Geschäftsklima. Wenn solche Informationen bereits im Laufe des Quartals zur Verfügung stehen, stellt sich die Frage: Warum bis zur BIP-Veröffentlichung warten?

Während des laufenden Quartals und in den Wochen bis zur Veröffentlichung der Quartalsergebnisse kann die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts mit Hilfe der bereits vorhandenen Informationen geschätzt werden. Dieser sogenannte „Nowcast“ spielt in der Konjunkturforschung eine wichtige Rolle.

Das Projekt: Entwicklung eines Nowcast-Modells für die deutsche Wirtschaft

Das Nowcast-Modell, das im BMWi zukünftig neben anderen Instrumenten der Konjunkturanalyse verwendet wird, wurde gemeinsam mit der Firma Now-Casting Economics Ltd. entwickelt. Diesem Nowcast liegt ein ökonometrisches Faktormodell zugrunde. Das Modell kann Zeitreihen mit unterschiedlicher Frequenz und mit unterschiedlichem Veröffentlichungsstand verarbeiten. Zudem ist es in der Lage, Informationen aus einer Vielzahl von ökonomischen Indikatoren zu einer kleinen Anzahl gemeinsamer Faktoren zu verdichten. Ein solches Verfahren bietet sich für Prognosezwecke besonders an, da viele makroökonomische Zeitreihen über den Konjunkturzyklus stark miteinander korrelieren. Faktormodelle extrahieren aus der Vielzahl von Zeitreihen gemeinsame Signale, die über den konjunkturellen Verlauf gesendet werden. Bei der Entwicklung des BMWi-Nowcast-Modells hat sich gezeigt, dass zwei Faktoren zur Erklärung des BIP nötig sind. Der erste Faktor spiegelt dabei überwiegend Informationen aus den „harten“ Indikatoren der amtlichen Statistik zu Produktion und Umsätzen wider. Der zweite Faktor kondensiert hingegen vor allem umfragebasierte Stimmungsindikatoren.

Im Zentrum des Nowcast-Modells steht eine automatisierte Prognose für die Quartalswachstumsrate des BIP. Neben dem Nowcast, also einer Prognose für das laufende Quartal, erzeugt das Modell auch Schätzungen für das kommende sowie das abgelaufene Quartal.

Für ein gegebenes Quartal wird der Nowcast mit jedem Veröffentlichungszeitpunkt eines neuen Konjunkturindikators aktualisiert. Somit sind stets alle zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Informationen in der Prognose enthalten. Theoretisch sollte der Nowcast somit im Zeitverlauf an Präzision gewinnen und sich sukzessive dem „wahren“ BIP-Wachstum annähern.

Neben dem Nowcast für das BIP werden auch Prognosen für alle Konjunkturindikatoren generiert, die als erklärende Variablen in das Modell einfließen. Dies ermöglicht auch, Rückschlüsse auf die Ursachen für Veränderungen der BIP-Prognosen zu ziehen: Wird ein neuer Datenpunkt veröffentlicht, ändert sich der Nowcast nur dann, wenn der veröffentlichte Wert vom prognostizierten Indikatorwert abweicht, also tatsächlich Neuigkeiten (sog. „News“) vorliegen. Diese News werden dann entsprechend ihrem Einfluss auf die BIP-Entwicklung gewichtet und führen zu einer Änderung der Punktprognose für das BIP.

Mit der Veröffentlichung eines neuen Datenpunktes ändern sich typischerweise auch die vergangenen Datenpunkte. Der Grund dafür sind Datenrevisionen. Das vom BMWi verwendete Modell berücksichtigt diese Revisionen und weist deren Effekt auf die Änderung des Nowcasts gesondert aus.

Die Prognosegüte des Modells wurde gegen mehrere alternative Modelle und existierende Nowcasts anderer Institutionen getestet und hat sich als sehr wettbewerbsfähig erwiesen.

Abbildung 1: Entwicklung des Nowcast für das zweite Quartal 2019 Bild vergrößern

Abbildung 1: Entwicklung des Nowcast für das zweite Quartal 2019

© Now-Casting Economics Ltd.

Ergebnisse des Nowcast-Modells

Im Folgenden werden die Ergebnisse des BMWi-Nowcast-Modells anhand der BIP-Prognose für das zweite Quartal 2019 beispielhaft erläutert. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Punktprognose für das BIP-Wachstum in diesem Zeitraum. Mit Datenstand vom 24. Juni 2019 sagt das Modell für das zweite Quartal einen Rückgang der wirtschaftlichen Leistung um -0,07 Prozent voraus.

Mit jeder Veröffentlichung eines neuen Konjunkturindikators kann sich auch die BIP-Prognose ändern. Dies ist dann der Fall, wenn der tatsächlich veröffentlichte Wert von der Modellprognose abweicht oder vergangene Werte der Zeitreihe revidiert wurden. Beispielsweise verschlechterte sich die Prognose Anfang Juni von 0,04 % auf -0,07 %, da unter anderem die zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte Produktion für den Monat April erheblich schlechter ausfiel als erwartet (siehe Tabelle 1). Die Produktionsdaten haben eine relativ große Bedeutung für die BIP-Prognose (Gewicht: 2,66 1 ), weshalb die „negative Überraschung“ (News) zu einer deutlichen Abwärtskorrektur der Prognose führte.

Betrachtet man die Prognose für das zweite Quartal im Zeitverlauf, kann zwischen drei Perioden unterschieden werden. In der „Forecast-Periode“ von Januar bis März liegen noch keine Daten über das zu prognostizierende zweite Quartal des entsprechenden Jahres vor. Die Prognose beruht allein darauf, dass in dem Modell auch die Entwicklung der einzelnen erklärenden Konjunkturindikatoren vorhergesagt wird.

Nach Ablauf des ersten Quartals beginnt Anfang April die „Nowcast-Periode“, die bis Ende Juni reicht (in der Abbildung heller schattiert). In dieser Zeit werden sukzessive Daten über das laufende Quartal veröffentlicht. Zu Beginn des Quartals haben vor allem Umfragedaten wie zum Beispiel der ifo Geschäftsklimaindex eine große Bedeutung für die Prognose, da sie vergleichsweise früh zur Verfügung stehen. Im weiteren Verlauf des Quartals, wenn auch harte Daten der amtlichen Statistik zum zweiten Quartal veröffentlicht werden, wird der Einfluss der Umfrageindikatoren auf die Prognose geringer, während Produktions- und Umsatzdaten eine immer wichtigere Rolle spielen.

Die „Backcast-Periode“ reicht schließlich von Anfang Juli bis zur Veröffentlichung der Quartalsergebnisse durch das Statistische Bundesamt am 14. August 2019. Auch in diesem Zeitraum werden Daten veröffentlicht, die sich noch auf das zweite Quartal beziehen. Dadurch kann sich die Prognose auch ex post noch ändern.

Fazit

Ökonometrische Prognosemodelle sind ein wichtiges Hilfsmittel der Konjunkturanalyse in Echtzeit. Das neue Nowcast­Modell erweitert das bestehende Analyseinstrumentarium im BMWi durch eine automatisierte Prognose, die mit jeder Veröffentlichung eines neuen Datenpunktes aktualisiert wird. Solche rein datengetriebenen, „technischen“ Prognosen können jedoch kein Expertenwissen ersetzen, das für die Erstellung von Konjunkturprognosen weiterhin unverzichtbar bleibt. Bei dem Nowcast handelt es sich deshalb nicht um die Prognose des BMWi für das laufende Quartal, sondern um eine zusätzliche, verdichtete Information über die aktuelle Indikatorenlage, die durch weitere Prognosemethoden und durch Expertenwissen ergänzt wird. So kann das Nowcast-Modell zum Beispiel Sonderfaktoren wie Streiks, Gesetzesänderungen oder Anpassungen in der Statistik nur schwer erfassen, weshalb die Modellergebnisse in solchen Fällen entsprechend interpretiert werden müssen, um ein möglichst präzises Bild der konjunkturellen Lage zeichnen zu können.

Zukünftig soll der Nowcast für das laufende Quartal regelmäßig in den Schlaglichtern der Wirtschaftspolitik veröffentlicht und kommentiert werden.

Kontakt: Charlotte Senftleben und Till Strohsal
Referat: Beobachtung, Analyse und Projektionen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung


Tabelle 1: Änderung des Nowcasts für Q2 am 07. Juni 2019 im Vergleich zum Vortag

ZeitreiheErgebnisGewichtNewsAuswirkung
(Basispunkte)
Produktion im Produzierenden Gewerbe-2,31 %2,66-1,57-4,18
Produktion im Bauhauptgewerbe-1,26 %0,19-0,66-0,13
Exporte-3,69 %0,85-2,61-2,21
Sonstige (weitere Variablen und Revisionen)-4,13
Gesamt-10,65
Nowcast Q2 vorher0,04 %
Nowcast Q2 nachher-0,07 %

Quelle: Now-Casting Economics Ltd.
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[1] Das Gewicht beschreibt die Stärke, mit der die News auf den Nowcast wirken. Multipliziert man das Gewicht mit den News, ergibt sich die numerische Änderung der BIP-Prognose.