Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten

Die „Fünf Wirtschaftsweisen“ haben ihr aktuelles Jahresgutachten am 9. November 2022 an Bundeskanzler Olaf Scholz übergeben und der Öffentlichkeit vorgestellt. „Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten“ lautet der Titel des Gutachtens. Es steht in der kurzen Frist im Zeichen der durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hervorgerufenen Verwerfungen bei der Energieversorgung und widmet sich in der mittleren Frist weiteren Herausforderungen wie der Dekarbonisierung der Industrie sowie dem Fachkräftemangel.

Hohe Energiepreise belasten die konjunkturelle Entwicklung

Der SVR sieht die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland durch die Energiekrise und die hohe Inflation belastet. Zum einen führten hohe Energie- und Lebensmittelpreise zu Kaufkraftverlusten und bremsten den privaten Konsum; zum anderen belasteten Energieknappheit und entsprechend hohe Kosten die heimische Produktion, insbesondere von energieintensiven Unternehmen. Auch schwächele die Exportnachfrage aufgrund der wirtschaftlichen Abkühlung weltweit.

Für das laufende Jahr erwartet der SVR daher ein Wachstum von noch +1,7 Prozent (SVR-Prognose von März dieses Jahres: +1,8 Prozent); für das kommende Jahr rechnet der SVR sogar mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von -0,2 Prozent (statt +3,6 Prozent). Damit ist er etwas optimistischer als die Bundesregierung, die in ihrer Herbstprojektion ein Wachstum von 1,4 Prozent im laufenden Jahr und einen Rückgang von -0,4 Prozent im kommenden Jahr erwartet (vgl. Abbildung 1). Die Bundesregierung konnte wegen eines früheren Veröffentlichungszeitpunkts, anders als der SVR, jedoch noch nicht eine relativ positive Entwicklung im dritten Quartal berücksichtigen.

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Sorge bereitet den „Wirtschaftsweisen“ die Entwicklung der Verbraucherpreisinflation. Sie rechnen hier mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von 8,0 Prozent im laufenden und 7,4 Prozent im kommenden Jahr. Hohe Inflationsraten bergen nach Auffassung des SVR nicht nur Gefahren für das Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt, sondern können auch verteilungspolitische Probleme mit sich bringen (vgl. Wortmeldung von Prof. Dr. Dr. Ulrike Malmendier auf Seite 12).

Am Beispiel der Inflationsrate im September 2022 zeigt der SVR auf, dass einkommensärmere Haushalte besonders stark von Inflation betroffen sind – ablesbar an der relativen Belastung in Prozent des Nettohaushaltseinkommens (vgl. Abbildung 2): je ärmer der Haushalt, desto größer die relative Belastung durch Inflation (linke Skala) und desto geringer seine Sparquote (rechte Skala).

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Welche Aufgaben hat der SVR?

Der SVR ist das zentrale wirtschaftspolitische Beratungsgremium der Bundesregierung; das BMWK betreut ihn federführend. Gesetzliche Grundlage ist das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14. August 1963. Der Rat wurde eingerichtet „zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“. In seinem Jahresgutachten, das bis zum 15. November eines jeden Jahres vorzulegen ist, untersucht der SVR über die gesamtwirtschaftliche Lage und Entwicklung hinaus u. a., wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes (Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und stetiges und angemessenes Wachstum) erreicht werden können. Die Bundesregierung nimmt im Jahreswirtschaftsbericht (JWB) Stellung zum Gutachten. Er wird im Januar des jeweils folgenden Jahres vorgelegt.

Die Bundesregierung hat den SVR zudem beauftragt, die Aufgabe des Nationalen Ausschusses für Produktivität auf EU-Ebene wahrzunehmen. Das Mandat sieht u. a. vor, dass der SVR seine diesbezüglichen Analysen in Form eines Kapitels des Jahresgutachtens veröffentlichen soll (in diesem Jahr: Kapitel 7 „Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten geopolitischer Veränderungen“).

Dem SVR („Fünf Wirtschaftsweise“) gehören derzeit an: Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer (Vorsitz), Prof. Dr. Veronika Grimm, Prof. Dr. Dr. Ulrike Malmendier, Prof. Dr. Achim Truger und Prof. Dr. Martin Werding.

Weitere Informationen: https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/

Entlastungsmaßnahmen zielgerichteter ausgestalten

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund bemängelt der SVR, dass viele der beschlossenen und geplanten Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung nicht zielgenau auf bedürftige Haushalte ausgerichtet seien. Denn sie würden in großem Maße auch einkommensstarken Haushalten zugutekommen, die nach Auffassung des SVR die Belastungen selbst tragen könnten. Um eine zusätzliche Belastung des Staatshaushaltes bzw. eine inflationstreibende Wirkung der breit angelegten Entlastungsmaßnahmen (über besserverdienende Haushalte) zu begrenzen, schlägt der SVR vor, den – wenn auch „steuersystematisch gebotenen“ – Ausgleich der kalten Progression „auf einen späteren Zeitpunkt“ zu verschieben. Zudem bringt der SVR ins Spiel, dass einkommensstarke Haushalte „streng befristet“ über einen Energie-Solidaritätszuschlag oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes an der Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen beteiligt werden könnten. Somit könnte nach Meinung des SVR „die Zielgenauigkeit des Gesamtpakets aus Entlastungen und Belastungen“ erhöht werden. Dies könnte dazu beitragen, die Energiekrise solidarisch zu bewältigen.

Der SVR empfiehlt, Entlastungsmaßnahmen so zu konzipieren, dass Energiesparanreize erhalten bleiben und zielgenau auf untere und mittlere Einkommen ausgerichtet werden; bei Unternehmen seien sie auf besonders durch die gestiegenen Energiepreise betroffene Unternehmen zu fokussieren, die mittelfristig ein tragfähiges Geschäftsmodell aufweisen.

Staatsfinanzen mittelfristig konsolidieren

Zusätzliche Sondervermögen (sowohl im Hinblick auf die Bundeswehr als auch auf den Wirtschaftsstabilisierungsfonds, WSF) bewertet der SVR angesichts der geringeren Haushaltstransparenz kritisch. Gleichzeitig sieht er in der erneuten Einhaltung der Schuldenbremse 2023 aber auch die Chance, weiteren nicht krisenbezogenen Ausgabenwünschen vorzubeugen. Dennoch: Die ökonomischen Folgen des Kriegs in der Ukraine könnten eine Anwendung der Ausnahmeklausel der Schuldenbremse auch 2023 rechtfertigen.

Die mittelfristige Tragfähigkeit des deutschen Staatshaushalts sieht der SVR durch die zuletzt deutlich angestiegene Schuldenstandsquote bislang nicht gefährdet; die Staatsfinanzen müssten aber mittelfristig konsolidiert werden. Auf europäischer Ebene mahnen die „Wirtschaftsweisen“ eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion an, die nicht zuletzt im steigenden Zinsumfeld die Schuldentragfähigkeit seiner Mitglieder sichert und die staatliche Aufgabenerfüllung gewährleistet.

In der EU könnten nach Auffassung des SVR gemeinsam bereitgestellte Finanzmittel (sog. Fiskalkapazitäten) für Krisenzeiten, wie der Europäische Stabilitätsmechanismus oder der Wiederaufbaufonds NextGenerationEU, ergänzt werden durch eine gemeinsame Finanzierung von Projekten (z. B. durch EU-eigene Einnahmen oder erhöhte nationale Beiträge an den EU-Haushalt), die einen europäischen Mehrwert liefern.

Keine breite Deindustrialisierung zu befürchten

Das Gutachten zeigt auf, dass Unternehmen in Deutschland und der EU von gestiegenen Energiepreisen stärker betroffen sind als internationale Wettbewerber. Diese Benachteiligung dürfte nach Auffassung des SVR in den nächsten Jahren andauern. Zwar sei mit einem Rückgang der Energiepreise zu rechnen, nicht aber auf das Vorkrisenniveau.

Um den Anstieg der Energiepreise zu dämpfen, sollten kurzfristig möglichst umfassend Erzeugungs- und Kraftwerkskapazitäten mobilisiert (erneuerbare Energien, Kohle- und Atomkraftwerke) und das Energieangebot erhöht werden. Ziel dabei sei, dass die Kapazitäten der teureren Gaskraftwerke immer seltener markträumend und somit preissetzend wirken; sie sollen somit in der so genannten Merit Order nach außen verschoben werden. Um die vorübergehende Nutzung von Kohle- und Kernkraftwerken zu beenden, sollen die erneuerbaren Energien schnellstmöglich EU-weit ausgebaut werden. Planungs- und Genehmigungsverfahren sollten hierzu weiter verbessert werden.

Die bereits vor der Krise begonnene Dekarbonisierung der Industrie und den daraus resultierenden Strukturwandel sieht der SVR durch die gegenwärtige Entwicklung beschleunigt. Zwar könne es in besonders energieintensiven Industrien, die im internationalen Wettbewerb stehen, zu Abwanderungen kommen, doch befürchtet der SVR keine breite Deindustrialisierung. Denn bereits im vergangenen Jahrzehnt sei die Energieintensität der Industrie deutlich zurückgegangen (wegen einer veränderten Industriestruktur und/oder verbesserter Energieeffizienz).

Wettbewerbsfähigkeit im neuen geopolitischen Umfeld stärken

Der SVR betont die Vorteile einer Integration in den Welthandel. Neue Herausforderungen seien nun entstanden durch (neue) Abhängigkeiten bei Energie, kritischen Rohstoffen sowie durch Subventionen von Wettbewerbern in Drittstaaten; zudem würde Wirtschaftspolitik vermehrt durch geostrategische Überlegungen beeinflusst. Die Frage sei, wie strategische Autonomie gestärkt werden kann, ohne außenwirtschaftliche Offenheit einzuschränken.

Hierzu seien Lieferketten zu diversifizieren. Zwar läge dies auch nach Vorstellung des SVR vor allem in der Verantwortung der Unternehmen, doch könne der Staat unterstützen – u. a. durch strategische Allianzen, ungebundene Finanzkredite und Investitionsgarantien.

Auch der Ausbau von Produktionskapazitäten in der EU könne sinnvoll sein, z. B. bei erneuerbaren Energien und durch heimischen Abbau kritischer Rohstoffe. Der SVR lobt hierbei das Konzept der „Offenen Strategischen Autonomie“ der EU und erachtet deren erweitertes Handelsschutzinstrumentarium als ausreichend, handelsverzerrende Praktiken in Drittstaaten zu sanktionieren.

Fachkräfte durch Weiterbildung und Erwerbsmigration sichern

Die „Wirtschaftsweisen“ warnen aufgrund der demografischen Entwicklung vor einem deutlich schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzial (vgl. Abbildung 3). Hierdurch dürften Fachkräfteengpässe entstehen, die Risiken für die wirtschaftliche Dynamik, die Tragfähigkeit der Sozialversicherungssysteme sowie die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft darstellen. Weiterbildung und Erwerbsmigration könnten Abhilfe schaffen.

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Weiterbildung könne durch bundesweite Standards gestärkt werden, etwa bei der Mindestqualität von Angeboten und bei Teilqualifizierungsmodulen. Der SVR regt u. a. an, zudem die Weiterbildungsberatung flächendeckend verfügbar zu machen und stärker auf Bedarfe Geringqualifizierter auszurichten. Ein Recht auf bundesweite längere Bildungs(teil)zeit könnte nach Auffassung der Wirtschaftsweisen gerade in vom Strukturwandel betroffenen Branchen helfen, sich frühzeitig beruflich umzuorientieren.

Der SVR regt an, zentrale Hürden für Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten – insbesondere restriktive Qualifikationsauflagen bei der Gleichwertigkeitsprüfung sowie hoher Verwaltungs- und Zeitaufwand bei der Visa-Erteilung – abzusenken. Vorbild könnte etwa die so genannte Westbalkanregelung sein. Sie könnte entfristet und auf ausgewählte Drittstaaten ausgeweitet werden.


KONTAKT & MEHR ZUM THEMA

Benedikt Langner

Referat: Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik schlaglichter@bmwk.bund.de

Das Jahresgutachten ist abrufbar unter:
https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2022.html

Die Bundesregierung nimmt im Jahreswirtschaftsbericht zum Jahresgutachten Stellung. Dieser wird im Januar 2023 vorgelegt.