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Die kommenden Jahre sind von erheblichen Heraus­forderungen gekennzeichnet, die die gesamtwirt­schaftliche Entwicklung Deutschlands prägen werden. Dazu zählen vor allem die demografische Entwick­lung, geopolitische Verschiebungen sowie die Dekarboni­sierung. Zugleich liegen in neuen Technologien und in der Transformation hin zur Klimaneutralität perspektivisch erhebliche Chancen, die es klug zu nutzen gilt.

Die Bundesregierung greift in ihren aktuellen Berichten zur Finanz­- und Wirtschaftspolitik, wie etwa dem Jahreswirt­schaftsbericht, den Begriff der Angebotspolitik auf und knüpft damit bewusst an eine über Jahrzehnte geführte Diskussion zur Ausrichtung der makroökonomischen Rah­menbedingungen an. Hierbei geht es nicht um eine Ver­engung der Wirtschaftspolitik auf Angebotspolitik, sondern um eine zeitgemäße Interpretation angebotspolitischen Denkens im Sinne einer Sozial-ökologischen Marktwirt­schaft.

Zur makroökonomischen Ausgangslage

Nachdem das Jahr 2022 im Zeichen der Versorgungssicher­heit und der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung stand, richtet sich das Augenmerk der Wirtschaftspolitik spätes­tens mit Beginn des Jahres 2023 verstärkt auf die mittlere und lange Frist. Um den Wohlstand in Deutschland zu er­neuern (vgl. Jahreswirtschaftsbericht 2023 (PDF, 15 MB)), bedarf es zu­nächst einer realistischen Perspektive auf die ökonomische Ausgangslage. Hierbei sind vier Faktoren hervorzuheben:

  1. Die Einhaltung des Klimaneutralitätsziels bis zum Jahr 2045 erfordert einen tiefgreifenden Umbau der deut­schen Wirtschaft, bei der die zentrale Herausforderung in einer effizienten Substitution der wegfallenden fos­silen Energie liegt. Hinzu kommen die weiteren Heraus­forderungen der planetaren Grenzen wie Biodiversität und Zero Pollution.
  2. Die demografische Entwicklung führt selbst unter Be­rücksichtigung einer weiterhin spürbaren Nettozuwan­derung mittelfristig zu einem deutlichen Rückgang des Arbeitsvolumens mit möglicherweise negativen Folgen für das Produktionspotenzial.
  3. Die im Zuge des völkerrechtswidrigen russischen An­griffskrieges gegen die Ukraine abgebrochenen Han­delsbeziehungen zu Russland haben die Energiekosten direkt und indirekt deutlich erhöht. Dieser negative Angebotsschock führt mindestens temporär zu einer Verschlechterung der internationa­len Wettbewerbsposition in Teilen des pro­duzierenden und insbesondere des energieintensiven Gewerbes. Wenngleich sich die deutsche Wirtschaft als anpassungs-­ und widerstandsfähig erwiesen hat, gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland auf einer neuen Grundlage zu stärken.
  4. Nicht zuletzt durchlebt Deutschland – wie ein Großteil der Staaten weltweit – aktuell eine Phase relativ hoher Inflation. Mit 6,9 Prozent lag die Inflationsrate 2022 so hoch wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland.

Alle genannten Aspekte bergen Risiken für das inflations­bereinigte Pro­-Kopf-­Einkommen in den kommenden Jah­ren. Um den Wohlstand in Deutschland zu erneuern, kommt es daher umso mehr auf eine ambitionierte und zielgerich­tete Wirtschaftspolitik an.

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Zur Notwendigkeit einer transformativen Angebotspolitik

Die beschriebenen Herausforderungen betreffen vorwie­gend die Angebotsseite, d. h. Herstellung und Angebot von Waren und Dienstleistungen. Daher ist es sachgerecht, dass die Wirtschaftspolitik den Herausforderungen auch ange­botsseitig begegnet. Unspezifische nachfrageseitige Impul­se könnten die Bekämpfung der derzeit zu hohen Inflation hingegen erschweren, da die Produktionskapazitäten in Deutschland aufgrund der Begrenzungen etwa durch das Arbeitsangebot bereits weitgehend ausgelastet sind. Ein vorläufiger Verzicht auf gesamtwirtschaftlich bedeutsame Nachfrageimpulse steht dabei allerdings nicht im Wider­spruch zu gezielten nachfrageseitigen Anreizen und sozial differenzierten Entlastungsmaßnahmen.

Die hier dargestellte Ausgangslage spricht damit insgesamt für eine neue Phase der Angebotspolitik. Die wirtschafts­politischen Antworten auf die beschriebenen Herausforde­rungen sind jedoch nicht in den angebotspolitischen Kon­zepten der späten 1970er bzw. frühen 1980er Jahre zu finden.1 Eine zeitgemäße Angebotspolitik muss insbeson­dere die folgenden vier Zusammenhänge berücksichtigen:

  1. Deutschland hat sich – wie andere Länder auch – am­bitionierte Klimaschutzziele gesetzt. Mit der Novelle des Bundesklimaschutzgesetzes im Jahr 2021 hat sich das Ambitionsniveau weiter erhöht. Die Ausgestaltung einer zeitgemäßen Angebotspolitik muss die notwendige Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft be­schleunigen und darf den Klimaschutzzielen nicht zu­widerlaufen. Eine nicht transformativ ausgerichtete unspezifische Angebotspolitik hätte letztlich zur Folge, dass sich die Handlungslücke im Bereich des Klima­schutzes und anderer ökologischer Ziele noch vergrö­ßern würde. Auch andere ökologische Grenzen müssen eingehalten werden.
  2. Neben den heute akuten ökologischen Herausforde­rungen unterscheidet sich die aktuelle Phase der Wirt­schaftspolitik auch deshalb fundamental von der Situ­ation der 1970er oder 1980er Jahre, weil Arbeitslosigkeit heute kein zentrales Problem ist. Anstelle einer steigen­den strukturellen Arbeitslosigkeit besteht heute ein demografisch bedingter Engpass vor allem an Fachkräf­ten. Ein angebotspolitisches Maßnahmenbündel muss daher einen besonderen Fokus auf das Arbeitskräfte­angebot und die Qualifikation von Fachkräften legen. Auch hier gilt, dass klassische angebotspolitische Maß­nahmen, die auf eine undifferenzierte Ausweitung der Produktionskapazitäten abzielen, die Nachfrage nach dem knappen Faktor (Arbeitskräften) noch erhöhen und etwa Personalengpässe in der Klimatransformation ver­schärfen könnten.
  3. Eine Schwäche der angebotspolitischen Ansätze frühe­rer Phasen bestand in ihrer verteilungspolitischen Wir­kung. In jenen Ländern, die etwa unter Verweis auf angebotspolitische Rezepte Steuersenkungen bei Unter­nehmen und Haushalten mit hohen Einkommen vorgenommen haben, zeigte sich meist eine deutliche Zunahme der materiellen Ungleichheit. So genannte Trickle-­Down-­Effekte haben sich in der Summe nicht eingestellt. Auch in Deutschland hat die Ungleichheit von Löhnen, Einkommen und Vermögen in den vergangenen Jahrzehnten strukturell zugenommen. Zuletzt konnte ein weiterer Anstieg der Einkommens­ungleichheit – auch durch politisches Handeln – ver­mieden werden. Allein die gesellschaftspolitische Ak­zeptanz der Transformation verlangt jedoch, dass eine angebotspolitische Reformagenda nicht zu einer er­neuten Zunahme von Ungleichheit führt, sondern eher zu einer verbesserten ökonomischen Teilhabe.
  4. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu bisherigen Phasen einer vorwiegend angebotspolitisch ausgerich­teten Wirtschaftspolitik liegt schließlich in dem grund­legend veränderten geopolitischen Umfeld. So bestehen heute nicht nur im Zuge der Globalisierung in manchen Bereichen deutlich stärkere wirtschaftliche Abhängig­keiten gegenüber einzelnen Drittstaaten, in einigen Fällen zeigen sich zunehmende geopolitische Friktio­nen und Unsicherheiten. Gleichzeitig ist der globale Wettbewerb zunehmend auch von protektionistischen Maßnahmen geprägt.

Ausgehend von diesen Zusammenhängen ergeben sich grundlegende Leitlinien für die Ausgestaltung weiterer an­gebotspolitischer Maßnahmen:
Eine moderne, transformative Angebotspolitik sollte

  • auf das Ziel der Klimaneutralität ausgerichtet,
  • angesichts der gesamtwirtschaftlichen Herausforderun­gen mit einem Fokus auf das Angebot an Arbeitskräften sowie an erneuerbarer Energie ambitioniert,
  • inklusiv bezogen auf die Chancen-­ und Bedarfsgerech­tigkeit sowie
  • geopolitisch geschärft und europäisch eingebettet sein.

Eine zeitgemäße angebotspolitische Agenda muss insge­samt im Einklang mit dem Leitbild der Sozial-­ökologischen Marktwirtschaft stehen, zu dem sich der Koalitionsvertrag ausdrücklich bekennt. Sie darf den notwendigen Fortschrit­ten bei der Wahrung der ökologischen Grenzen nicht ent­gegenstehen, sondern sollte die Erneuerung vorantreiben. Gleichzeitig sollten die Maßnahmen Teilhabechancen ver­bessern und materieller Ungleichheit entgegenwirken.

Auf dem Weg zu einer transformativen Angebotspolitik

Transformative Angebotspolitik setzt auf die Schaffung marktlicher Anreize zur effizienten Allokation knapper Ressourcen in Richtung Zukunftsinvestitionen. Es geht da­bei weniger darum, bestehende Produktionsstrukturen auszuweiten, sondern um eine Beschleunigung des Umbaus der Produktionsstrukturen mit dem Ziel eines nachhalti­geren und resilienteren Wohlstands in Deutschland. Damit der Umbau trotz knapper Produktionsfaktoren gelingen kann, sind weitere Produktivitätssteigerungen von zentra­ler Bedeutung. Neben einer Wirtschaftspolitik, die auf ein stärkeres Angebot der limitierenden Produktionsfaktoren abzielt, bedarf es daher auch Maßnahmen zur Erhöhung des technischen und nicht-­technischen Fortschritts sowie der Arbeits-­ und Energieeffizienz. Ausgehend hiervon kön­nen für die konkrete Ausgestaltung einer transformativen angebotspolitischen Agenda fünf Schwerpunkte zur spezi­fischen Angebotsausweitung benannt werden:

  • Angebot an (qualifizierter) Arbeit stärken
  • Ausbau erneuerbarer Energieträger und Energieeffi­zienz vorantreiben
  • Kapazitäten für eine klimaneutrale Industrieproduk­tion schaffen
  • Angebot an klimafreundlichem und bedarfsgerechtem Wohnraum deutlich erhöhen
  • Anreize zur Krisenvorsorge und Resilienz stärken

Während eine Ausweitung des Arbeitsangebots u. a. den Ab­bau von steuerlichen und anderen Fehlanreizen für (poten­zielle) Beschäftigte sowie die Entwicklung eines modernen Einwanderungsrechts inklusive der notwendigen institu­tionellen Voraussetzungen verlangt, erfordern die übrigen Handlungsfelder erhebliche privatwirtschaftliche Investi­tionen. Zur Mobilisierung dieser Investitionen braucht es in erster Linie Planungssicherheit und verlässliche Rahmen­bedingungen: einen effizienten Instrumentenmix aus ge­zielter Förderung, CO2­-Bepreisung und Regulierung mit Augenmaß. Mitnahmeeffekte und uneffektive und unnö­tige Bürokratie gilt es zu begrenzen. Damit die Rolle der CO2­-Bepreisung als effizientes Instrument zur dezentralen Lenkung von Investitionen weiter gestärkt werden kann, müssen außerdem administrative Voraussetzungen für Ent­lastungszahlungen geschaffen werden, die insbesondere Haushalte mit geringem Einkommen und Vermögen zu­gutekommen.

Vor dem Hintergrund der erhöhten Inflation und der rela­tiv hohen Auslastung sollte auf eine unverändert expansive Fiskalpolitik verzichtet werden. Auch in der Priorisierung von öffentlichen Ausgaben liegt eine Chance für mehr Ef­fizienz im Zuge der Transformation. Hier darf die Einengung der haushaltspolitischen Spielräume nicht zu einem Ver­zicht auf gut begründete Zukunftsinvestitionen führen. Andernfalls könnte nicht nur die Erneuerung des Wohl­stands, sondern auch die Rückführung der Inflation gefähr­det werden. Die Einnahmenstruktur des Staates muss eben­falls im Sinne der transformativen Angebotspolitik auf den Prüfstand gestellt werden, um Arbeitsanreize zu stärken und die Umweltverbräuche sozial gerecht zu reduzieren. Eine pauschale Absenkung der Unternehmenssteuern erscheint angesichts der Knappheit bestimmter Produktionsfaktoren nicht zielführend, vielmehr sollten gezielt transformative Investitionen gestärkt werden. Auch die deutlich verringer­ten haushaltspolitischen Spielräume, die hohen Ersparnis­se im Unternehmenssektor sowie verteilungspolitische Gründe sprechen für ein gezieltes Vorgehen.

Um die notwendige Geschwindigkeit, Flexibilität und Effi­zienz der Transformationsprozesse zu erreichen, nimmt eine zeitgemäße Angebotspolitik ferner folgende allgemei­ne Handlungsfelder in den Blick: 

  • Wettbewerb stärken
  • Innovationsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen
  • Prozessbeschleunigung und Bürokratieabbau umsetzen
  • Öffentliche Infrastruktur beschleunigt modernisieren
  • Handelsbeziehungen diversifizieren

Im Zuge dieser Handlungsfelder ergeben sich durchaus auch Schnittmengen zu klassischen angebotspolitischen Ansätzen. Allerdings sind bei der konkreten Ausgestaltung weiterer Maßnahmen auch hier die oben genannten Leit­linien wesentlich. Eine moderne Angebotspolitik muss unter einem verbindlichen ökologischen Ordnungsrahmen stattfinden und verteilungspolitisch sensibel ausgestaltet sein.

Der Ansatz einer transformativen Angebotspolitik spiegelt sich bereits in vielen konkreten Maßnahmen wider, die das BWMK und die Bundesregierung ergriffen haben oder pla­nen (vgl. Jahreswirtschaftsbericht 2023 (PDF, 15 MB)). Die Maßnahmen zum beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, die wirtschaftspolitische Flankierung der Dekarbonisierung des Industriesektors, die Stärkung des Wettbewerbsprinzips mit der jüngsten Novellierung des Wettbewerbsrechts oder die Maßnahmen im Rahmen der Fachkräftestrategie sind nur einige Beispiele. Angesichts der Größenordnung der bevorstehenden Herausforderungen werden jedoch weite­re Schritte im Sinne einer zeitgemäßen Angebotspolitik nötig sein.

1 Hierbei ist zu betonen, dass trotz eines Aufgreifens der Angebotspolitik als Neuorientierung für die Wirtschaftspolitik durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) bereits Mitte der 1970er Jahre (vgl. JG SVR 1976/77) die praktische Umsetzung zur Angebotspolitik in den 80er Jahren in Deutschland differenzierter und vorsichtiger erfolgt ist als etwa in den USA oder Großbritannien (vgl. etwa JG SVR 1981/82).

KONTAKT & MEHR ZUM THEMA

Dr. Elga Bartsch, Abteilungsleiterin Wirtschaftspolitik
Dr. Johannes Vatter, Referat Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik

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