Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2010 hat strukturelle Schwächen der Wirtschafts- und Währungsunion offengelegt. Um künftig Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten oder in der Realwirtschaft früher zu erkennen und effektiv gegensteuern zu können, wurde mit dem „Europäischen Semester“ ein Monitoring-Prozess eingeführt.
Dieser besteht aus drei Säulen: der Koordinierung und Überwachung der Wirtschaftspolitik der EU-Mitgliedstaaten, dem Verfahren zur Überwachung von makroökonomischen Ungleichgewichten und der haushaltspolitischen Koordinierung nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Dabei werden - soweit im makroökonomischen Kontext relevant - auch horizontale Themen und Aspekte wie der grüne und digitale Wandel oder die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) berücksichtigt. Das Europäische Semester gibt einen verbindlichen Fahrplan für die wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitische Überwachung in der Europäischen Union vor und gestaltet sich im Jahresverlauf wie folgt:
- Etwa im November eines Jahres läutet die Europäische Kommission den Semesterprozess mit Vorlage des sogenannten Herbstpakets ein. Dieses Paket beinhaltet insbesondere die jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum, in der die EU-Kommission die aus ihrer Sicht wichtigsten wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen und Handlungsvorschläge für das darauffolgende Jahr formuliert. Der Fokus der aktuellen Strategie liegt dabei auf vier Dimensionen – der ökologischen Nachhaltigkeit, Produktivität, Gerechtigkeit und makroökonomische Stabilität.
- Das Herbstpaket beinhaltet zudem den Frühwarnbericht im Rahmen des makroökomischen Ungleichgewichteverfahrens, den Entwurf für einen gemeinsamen Beschäftigungsbericht, einen Vorschlag für Empfehlungen an die Eurozone sowie eine Bewertung der im Oktober durch die Staaten der Eurozone vorgelegten Budgetplanungen für das kommende Jahr.
- Im Februar veröffentlicht die Europäische Kommission für jeden EU-Mitgliedsstaat einen Länderbericht, der sich mit der wirtschaftlichen Situation des jeweiligen Landes auseinandersetzt. Dies schließt auch eine vertiefte Analyse im Rahmen des makroökonomischen Ungleichgewichteverfahrens ein, sofern der EU-Mitgliedstaat gemäß Frühwarnbericht Ungleichgewichte aufweisen könnte.
- Im April übermitteln die EU-Mitgliedstaaten ihre Stabilitäts- und Konvergenzprogramme sowie ihre Nationalen Reformprogramme an die EU-Kommission. Erstere legen den Schwerpunkt auf die finanzpolitische Entwicklung. Die Nationalen Reformprogramme stellen die wirtschaftspolitischen Reformen der EU-Mitgliedstaaten dar.
- Auf der Grundlage dieser Programme schlägt die EU-Kommission im Mai länderspezifische Empfehlungen für jeden EU-Mitgliedstaat vor, die spezifische nationale Herausforderungen adressieren.
- Die länderspezifischen Empfehlungen werden beim Europäischen Rat Mitte des Jahres durch die Staats- und Regierungschefs gebilligt und im Anschluss vom Rat der EU verabschiedet. Damit endet das jeweilige Europäische Semester.
- Die Europäische Kommission hat das Europäische Semester hier zusammengefasst.
Anpassungen des Europäischen Semesters infolge der Covid-19-Pandemie
Das Europäische Semester stand 2020 und 2021 im Zeichen der Covid-19-Krise. So weisen die länderspezifischen Empfehlungen vom 20. Juli 2020 einen starken Pandemiefokus auf und enthalten unter anderem die Aufforderung an alle EU-Mitgliedsstaaten, erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, um die Pandemie zu bekämpfen und die Erholung der Wirtschaft zu unterstützen.
Auch der im Sommer 2021 beendete Zyklus des Europäischem Semesters wurde weiter durch das Pandemiegeschehen und die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen geprägt. Er war eng mit der Erstellung der nationalen Pläne im Rahmen der europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität verknüpft. Erklärtes Ziel dieses temporären Kriseninstruments ist es, die Umsetzung von Reformen und Investitionen in den EU-Mitgliedstaaten zu unterstützen. Durch die geförderten Maßnahmen sollen die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie abgemildert sowie die Resilienz und die Wachstumspotenziale gestärkt werden. Insbesondere sollen die im Rahmen der Fazilität zur Verfügung stehenden Mittel den grünen und digitalen Wandel unterstützen und zur Bewältigung der länderspezifischen Herausforderungen beitragen, die im Rahmen des Europäischen Semesters identifiziert wurden. Um Mittel aus der Fazilität zu erhalten, müssen EU-Mitgliedstaaten entsprechende kohärente Pakete von Investitionen und Reformen, sogenannte Aufbau- und Resilienzpläne, vorlegen.
Die Umsetzung der Fazilität hat zu vorübergehenden Abweichungen im üblichen Semesterprozess geführt. So hat die Europäische Kommission im Jahr 2021 keine Länderberichte veröffentlicht. Auch neue länderspezifische Empfehlungen wurden 2021 mit Ausnahme von fiskalpolitischen Empfehlungen nicht ausgesprochen. Im Fokus der Analysen der Europäischen Kommission stand dagegen die Bewertung und Bewilligung der eingereichten nationalen Aufbau- und Resilienzpläne.
Auch in den nächsten Jahren wird das Europäische Semester mit der Aufbau- und Resilienzfazilität verknüpft sein. So ist die Berichterstattung zur Umsetzung der nationalen Pläne im Rahmen des Semesters vorgesehen. Deutschland hat sich angesichts der weitgehend aufgesetzten Aufbau- und Resilienzpläne erfolgreich dafür eingesetzt, im anstehenden Semesterzyklus zu den bewährten Prozessen des Europäischen Semesters zurückzukehren. Für den nächsten Zyklus sind wieder Länderberichte sowie länderspezifischer Empfehlungen vorgesehen. Dies ist wichtig, um eine fundierte Diskussion zu strukturellen Herausforderungen, die Identifizierung möglicher neuer makroökonomischer Risiken und die Erarbeitung neuer Reformempfehlungen zu ermöglichen.
Weitere Informationen zur Aufbau- und Resilienzfazilität und auch zum deutschen Aufbau- und Resilienzplan finden Sie hier sowie bei der Europäischen Kommission (hier).