Claudia Dörr-Voss: Europastaatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

Claudia Dörr-Voss: Europastaatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

© BMWi

Seit dem 1. Juli führt Deutschland den Vorsitz im Rat der EU. Wie erleben Sie diese Ratspräsidentschaft?

EU-Ratspräsidentschaften sind eine große Ehre für jeden EU-Mitgliedstaat, aber auch eine große Verantwortung. Für mich ist es bereits die vierte deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die ich – in unterschiedlichen Funktionen – mitgestalten darf. Die COVID-19-Pandemie ist hier aktuell eine besondere Herausforderung. Denn die Erwartungen der EU-Mitgliedstaaten und der Bürgerinnen und Bürger Europas an die EU sind hoch, Wege aufzuzeigen, um diese Krise rasch zu überwinden und die EU gestärkt und zukunftsfähig aus diesen schwierigen Umständen zu führen.

Wie war der Start der deutschen EU-Ratspräsidentschaft?

Unsere sechsmonatige Ratspräsidentschaft ist mit hohem Tempo gestartet. Zu Beginn hat Bundeswirtschaftsminister Altmaier die inhaltlichen Schwerpunkte des BMWi in den vier Ausschüssen des Europäischen Parlaments vorgestellt, die für die Themen des BMWi zuständig sind. Das Europäische Parlament ist neben dem Rat ein sehr wichtiger Verhandlungspartner für uns, um insbesondere die zahlreichen EU-Gesetzgebungsvorhaben zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie zügig zum Abschluss zu bringen. Auch mit dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss hat Bundesminister Altmaier eine angeregte Debatte geführt.

Ein Wermutstropfen der ersten Präsidentschaftsphase war jedoch, dass wir pandemiebedingt im Juli keine Präsenzveranstaltungen in Deutschland durchführen konnten und auch im September viele Termine in virtueller Form stattfanden. Der wichtige persönliche Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen EU-Mitgliedstaaten und der Netzwerkcharakter von Fachkonferenzen kommt dabei naturgemäß zu kurz. Leider wird es die epidemiologische Situation aller Voraussicht nach auch in der zweiten Hälfte unserer Präsidentschaft nicht zulassen, wieder zu deutlich mehr physischen Veranstaltungen zurückzukehren.

Was hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bisher erreicht?

Ein großer Erfolg gleich im Juli war die Einigung der Staats- und Regierungschefs auf den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 der EU sowie das Aufbauinstrument. Damit haben wir solidarisch mit den anderen EU-Mitgliedstaaten die Weichen für die wirtschaftliche Erholung von der Krise gestellt. Jetzt gilt es, den Aufbauplan rasch mit Leben zu füllen. Die Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen war auch Voraussetzung für weitere wichtige Vorhaben, die wir während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorantreiben wollen. Dies betrifft vor allem die laufenden Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament zu den EU-Strukturfonds und zum Just Transition Fund. Die EU-Strukturfonds stärken den Zusammenhalt in Europa und spielen für die Krisenbewältigung und den Wiederaufbau eine Schlüsselrolle. Der Just Transition Fund unterstützt den Umstieg auf klimafreundliche Technologien und somit den Strukturwandel in ganz Europa.

Auch bei vielen anderen Vorhaben haben wir in den ersten Monaten unserer Ratspräsidentschaft in den Ratsgremien Diskussionen geführt, unter anderem über von der EU-Kommission vorgelegte Strategien. Zum Beispiel hat die Ratsformation für Wettbewerbsfähigkeit im September Ratsschlussfolgerungen zum Binnenmarkt erarbeitet, um damit die Bedeutung des Binnenmarktes für die wirtschaftliche Erholung, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit aufzuzeigen. Die für Handels-
politik zuständigen Ministerinnen und Minister führten bei ihrem informellen Treffen im September eine intensive Diskussion über die aktuellen Herausforderungen der Handelspolitik und die Bedeutung dieser für die Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise. Darüber hinaus wollen wir durch eine Vielzahl hochrangiger Konferenzen die politische Meinungsbildung vorantreiben. So haben wir beispielsweise beim European Competition Day am 7. und 8. September in Berlin die aktuellen wettbewerbspolitischen Herausforderungen mit Expertinnen und Experten diskutiert.

Der Terminplan für die nächsten drei Monate ist voll. Was wollen Sie noch erreichen?

Für Oktober hat Bundeswirtschaftsminister Altmaier seine für Energiepolitik, Telekommunikation und Digitales sowie Wettbewerbsfähigkeit zuständigen Kolleginnen und Kollegen zu informellen Treffen nach Berlin, Baden-Baden und Königswinter eingeladen. Diese Treffen bieten Gelegenheit zu strategischen Grundsatzdiskussionen und zur politischen Meinungsbildung der EU. Bei den weiteren formalen Ratstagungen wollen wir in den nächsten Wochen etwa die Verhandlungen wichtiger Gesetzgebungsvorhaben abschließen, zum Beispiel zum Binnenmarktprogramm und zum Programm Digitales Europa. Zudem wollen wir die Verhandlungen über die Verordnung über Privatsphäre und elektronische Kommunikation, die sogenannte ePrivacy-Verordnung, möglichst weit vorantreiben.

Da die aktuelle EU-Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen noch nicht lange im Amt ist, konnte sie – auch Corona-Pandemie-bedingt – noch nicht viele neue Gesetzgebungsvorschläge vorlegen, über die beraten werden kann. Der Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft liegt daher stärker auf der grundsätzlichen Ausrichtung in vielen wichtigen Politikbereichen, um den weiteren Weg zu prägen. In weiteren wichtigen Politikbereichen wollen wir sogenannte Ratsschlussfolgerungen verabschieden – also gemeinsame Positionierungen der EU-Mitgliedstaaten zu Themen, die für den weiteren wirtschaftspolitischen Kurs der EU wichtig sind: Für den Wettbewerbsfähigkeitsrat im November planen wir im Hinblick auf den Post-Corona-Aufschwung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt Ratsschlussfolgerungen zur Bedeutung der EU-Industriepolitik, zur besseren Rechtsetzung und zu Weichenstellungen im öffentlichen Auftragswesen. Für den Energierat im Dezember sehen wir in Reaktion auf die Wasserstoffstrategie der EU-Kommission Ratsschlussfolgerungen zum Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft in der EU vor, und auch zur Zusammenarbeit im Bereich Offshore sind Ratsschlussfolgerungen geplant. Beim Handelsministerrat im November ist unter anderem ein Austausch über die neue handelspolitische Ausrichtung der EU vorgesehen, der auch die Handelsbeziehungen der EU zu China und zu den USA sowie die bilaterale Handelsagenda der EU in den Blick nehmen soll. Schließlich finden in den nächsten Wochen und Monaten zahlreiche Fachkonferenzen statt, bei denen wichtige aktuelle und Zukunftsfragen diskutiert werden sollen.

Wenn Sie sich wünschen könnten, wie die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 im Rückblick betrachtet wird: Was sollte in Erinnerung bleiben?

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 sollte im Rückblick dafür stehen, die richtigen politischen Impulse zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie und ihrer Folgen und zum wirtschaftlichen Aufbau gesetzt und gleichzeitig die Solidarität und Einheit der EU gestärkt zu haben. Das ist der Anspruch, den wir haben, getreu unserem Motto: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Dafür liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Klar ist auch, dass diese Ziele nur gemeinsam erreicht werden können – in vertrauensvoller und konstruktiver Zusammenarbeit mit den anderen EU-Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament sowie der EU-Kommission. Wenn unsere Ratspräsidentschaft am 31. Dezember zu Ende geht, haben wir mit unseren Triopartnern Portugal und Slowenien, die nach Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, die Gewissheit, dass unsere gemeinsamen Vorhaben engagiert weiter betrieben werden.