Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung legt Jahresgutachten 2020/21 vor

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© Bratislav Milenkovic

Das aktuelle Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) trägt den Titel „Corona-Krise gemeinsam bewältigen, Resilienz und Wachstum stärken“. Der Rat hat seine Expertise am 11. November 2020 in einem virtuellen Format an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel übergeben und der Öffentlichkeit vorgestellt. In dem Gutachten würdigt er das schnelle und entschlossene Handeln der nationalen und europäischen Politik in der Krise. Neben den aktuellen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie sieht der SVR drei längerfristige strukturelle Herausforderungen: den technologischen Fortschritt durch Digitalisierung, den demographischen Wandel sowie die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Der damit einhergehende Strukturwandel bietet aus Sicht des SVR auch Chancen: Die Wirtschaftspolitik sei gefordert, Wachstums- und Produktivitätspotenziale der Digitalisierung zu heben. Der Klimaschutz biete industriepolitische Chancen und erfordere ein europäisches und globales koordiniertes Vorgehen. Den steigenden Belastungen der Rentenversicherung aus dem demografischen Wandel widmet der SVR ein eigenes Kapitel. Nicht zuletzt legt der SVR – als Nationaler Ausschuss für Produktivität im europäischen Kontext – mit dem vorliegenden Jahresgutachten auch seinen zweiten Produktivitätsbericht vor.

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Konjunktur: Erholung hängt vom Pandemieverlauf ab

Die konjunkturellen Einschätzungen von SVR und Bundesregierung liegen insgesamt nah beieinander. Auch der SVR sieht die deutsche Volkswirtschaft inmitten einer der schwersten Wirtschaftskrisen in der Nachkriegszeit. Die Corona-Pandemie habe in Deutschland zum stärksten Einbruch der Wirtschaftsleistung in einem Quartal seit Beginn der vierteljährlichen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen im Jahr 1970 geführt. Aufgrund der kräftigen Erholung über den Sommer dürfte das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit einer Rate von -5,1% auf das gesamte Jahr 2020 gesehen ungefähr so stark zurückgehen wie im Jahr 2009 während der globalen Finanzkrise. Für das kommende Jahr erwartet der SVR ein Wachstum von 3,7 %. Das Vorkrisenniveau dürfte allerdings nicht vor Anfang des Jahres 2022 erreicht werden. In seiner Prognose geht der SVR von begrenzten Eingriffen und keinem umfangreichen Shutdown aus. Für die weitere Entwicklung blieben das Infektionsgeschehen und die daraufhin getroffenen Einschränkungen entscheidend.

Auch global hat die Pandemie zu einem starken Wirtschaftseinbruch geführt. Der SVR erwartet einen Rückgang des weltweiten BIP um 4,0 % im Jahr 2020 und ein Wachstum von 5,1 % im Jahr 2021. Von den großen Volkswirtschaften dürfte lediglich China im Jahr 2020 ein Wachstum von 1,8 % verzeichnen. In Europa werde die wirtschaftliche Erholung in den Wintermonaten vorübergehend zum Stillstand kommen. Erst nach Abklingen der zweiten Infektionswelle und erneuten Lockerungen sei mit einem Erstarken der wirtschaftlichen Aktivität zu rechnen.

Abbildung 1 : Entwicklung des BIP in Deutschland und im Euroraum (2013-2021) (Veränderung zum Vorjahr in Prozent) Bild vergrößern

Abbildung 1 : Entwicklung des BIP in Deutschland und im Euroraum (2013-2021) (Veränderung zum Vorjahr in Prozent)

© Zitiert nach SVR, Jahresgutachten 2020/2021, www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2020.html

Abbildung 2 : Ergebnisse einer Umfrage zur Auswirkung der Umsatzsteuersenkung (Angaben in Prozent) Bild vergrößern

Abbildung 2 : Ergebnisse einer Umfrage zur Auswirkung der Umsatzsteuersenkung (Angaben in Prozent)

© Zitiert nach SVR, Jahresgutachten 2020/2021, www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2020.html

Stabilisierung in Zeiten von Corona

Der SVR begrüßt die raschen und umfangreichen Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung. Die voraussichtliche Wirkung des Konjunkturpakets der Bundesregierung beziffert der Rat auf +0,7 bis +1,3 % des BIP. Allerdings seien einige der gewählten Instrumente, insbesondere die temporäre Senkung der Umsatzsteuer, wenig zielgenau. Die Expertinnen und Experten empfehlen eine stärkere Ausweitung des steuerlichen Verlustvortrags und einen gezielteren Einsatz der Überbrückungshilfen. Auch eine Reduktion der Stromsteuer und der EEG-Umlage seien geeignete Maßnahmen.

Um die Überbrückungshilfe zielgerichteter auszugestalten empfiehlt der SVR eine Orientierung am branchendurchschnittlichen Umsatzrückgang mit Gleitzonen ohne feste Grenzen. Ein Unternehmerlohn für Solo-Selbständige könne die Lücke bei den Überbrückungshilfen schließen. Bei einer Verbesserung der Wirtschaftslage könne von einer Verlängerung der Überbrückungshilfe abgesehen werden; stattdessen sollten zielgerichtetere Lösungen für besonders betroffene Branchen und Regionen gefunden werde.

Die Sonderregelungen beim Kurzarbeitergeld dürften laut SVR dazu beigetragen haben, die Beschäftigungsverluste im ersten Halbjahr 2020 erheblich zu reduzieren. Kritisch äußert sich der SVR zur Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 80 bzw. 87 %. Wichtig sei dagegen, Anreize zu setzen, damit in der Zeit der Kurzarbeit Möglichkeiten für Weiterbildungsmaßnahmen genutzt werden.

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Fiskalische Spielräume nutzen und öffentliche Haushalte konsolidieren

Der SVR begrüßt, dass Geld- und Fiskalpolitik mit umfangreichen Stützungsmaßnahmen auf die Krise reagiert und somit zur Stabilisierung beigetragen haben. Die Inanspruchnahme der Ausnahmeklausel der Schuldenbremse 2020 und 2021 sei gerechtfertigt. Die Tilgungspläne der Bundesregierung hingegen werden kritisch gesehen, da sie einen fixen jährlichen Abbau der Schulden vorsehen. Als Alternativen werden ein an die konjunkturelle Lage angepasster Tilgungsplanung oder die Abwandlung der Zielgröße in Abhängigkeit der Schuldenquote vorgeschlagen. Für die Jahre 2022 bis 2024 spricht sich der SVR für eine Übergangsphase aus, in der weiterhin eine erhöhte Kreditaufnahme möglich sein solle. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte solle in den Fokus rücken, sobald sich die wirtschaftliche und gesundheitliche Lage dauerhaft stabilisiert hat.

In Europa gemeinsam gestärkt aus der Krise hervorgehen

Der SVR begrüßt die europäische Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) als zeitlich begrenzten Beitrag zur Corona-Krisenbewältigung und als Impuls zur Unterstützung der grünen und digitalen Transformation. Die neuen krisenbedingten europäischen Instrumente sollten jedoch lediglich temporärer Natur sein. Angesichts steigender Staatsverschuldung in Europa hält der SVR es für notwendig, die langfristige Tragfähigkeit der Staatshaushalte wieder verstärkt in den Blick zu nehmen, um einer Staatsschuldenkrise vorzubeugen und gleichzeitig die Refinanzierungskosten an den Finanzmärkten niedrig zu halten.

Abbildung 3 : Szenarien der globalen Treibhausgasreduktion (Szenarien der globalen Treibhausgasreduktion in Gt CO2e) Bild vergrößern

Abbildung 3 : Szenarien der globalen Treibhausgasreduktion (Szenarien der globalen Treibhausgasreduktion in Gt CO2e)

© Zitiert nach SVR, Jahresgutachten 2020/2021, www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2020.html

Die Stärkung des EU-Binnenmarktes kann aus Sicht des SVR die wirtschaftliche Resilienz erhöhen, u. a. durch diversifizierte Lieferketten. Ungenutzte Potenziale sieht der SVR insbesondere beim Dienstleistungshandel, im digitalen Bereich, im Energiesektor und bei der Finanzmarktintegration.

Klimaschutz als industriepolitische Chance nutzen

Der SVR betont die industriepolitischen Chancen des Klimaschutzes. Gelinge es deutschen Unternehmen, die technischen Lösungen für emissionsarme Produktionsverfahren und Produkte bereitzustellen, könne dies Wertschöpfung, Beschäftigung und Wohlstand im Inland erhöhen und einen maßgeblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Die Bundesregierung solle mit gezielten Maßnahmen darauf hinwirken, dass Unternehmen diese Chancen ergreifen.

Im Mittelpunkt der Klimapolitik sollte aus Sicht des SVR die Bepreisung von Treibhausgasemissionen stehen. Den von der Bundesregierung eingeschlagenen Weg eines ergänzenden nationalen Emissionshandels begrüßt er, und spricht sich mittelfristig für eine Einbettung in den europäischen Emissionshandel aus. Bis dahin solle eine Energiepreisreform die Anreize zur Sektorkopplung in Deutschland stärken. Der SVR empfiehlt die Abschaffung staatlich induzierter Steuern, Abgaben und Umlagen, insbesondere die Streichung der EEG-Umlage und die Senkung der Stromsteuer auf den europäischen Mindestsatz. Er kritisiert eine mangelnde Planungssicherheit für Investoren und Haushalte aufgrund der schwankenden EEG-Umlage, die von den Einnahmen aus dem Brennstoffemissionshandel abhängt. Finanziert werden könne eine Energiepreisreform durch die Streichung von Subventionen, u. a. die Entfernungspauschale und das Dienstwagenprivileg. Wie bereits in seinem Sondergutachten „Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik“ vom Juli 2019 spricht sich der SVR für zielgerichtete Kompensationen von Haushalten und Unternehmen aus.

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Produktivitätswachstum durch Digitalisierung und Innovation

Im Produktivitätskapitel des Gutachtens weist der SVR darauf hin, dass digitale Technologien die Produktivität in weiten Teilen der Wirtschaft erhöhen können. Um die Verbreitung digitaler Technologien zu beschleunigen und neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen, seien weitere Investitionen in die digitale Infrastruktur und eine Reduktion bürokratischer Hürden bei deren Ausbau notwendig. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen tun sich nach Ansicht des SVR in Deutschland nach wie vor schwer damit, die Digitalisierung für sich zu nutzen. Private Innovationsausgaben in Deutschland seien vor allem auf große Unternehmen konzentriert. Deshalb seien Innovationsanreize insbesondere für KMU zu stärken und die Rahmenbedingungen für die Nutzung digitaler Dienste und Geschäftsmodelle zu verbessern.

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Abbildung 4 : Demograhische Entwicklung

© Zitiert nach SVR, Jahresgutachten 2020/2021, www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2020.html

Vorschläge für eine nachhaltige Alterssicherung

Um die steigenden Belastungen der Rentenversicherung aus dem demografischen Wandel abzufedern schlägt der SVR mehrheitlich eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung vor. Kurzfristig könne eine Wiedereinsetzung des Nachholfaktors den pandemiebedingten Anstieg des Verhältnisses von Renten- zu Lohnniveau in den kommenden Jahren schrittweise zurückführen. Verbesserte Arbeitsmarktintegration und Bildung dienten der Vermeidung von Altersarmut; Mütter- und Grundrente seien hingegen nicht zielgenau, um Altersarmut zu verringern.

Mehr zum Thema:
Die Bundesregierung nimmt im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts 2021 zu dem Jahresgutachten Stellung. Dieser wird im Januar 2021 vorgelegt. Weitere Informationen zum SVR-Gutachten hier: www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de
Kontakt:
Dr. Katja Fuder
Referat: Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik
schlaglichter@bmwi.bund.de