Illustration zum Artikel "Drahtseilakt Inflationsrate"


Die Inflation, also der Auftrieb des allgemeinen Preisniveaus, ist so hoch wie lange nicht mehr (gemessen mit dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex [HVPI]). Nicht nur in Deutschland, wo die Inflation seit Jahresbeginn durchschnittlich 7,2 % betrug, sondern auch in Frankreich kletterten die Preise im selben Zeitraum um durchschnittlich 5,1 %, in Italien um 6,7 % und in Spanien um 8,4 %. In den baltischen Staaten lag die Inflation dieses Jahr bisher sogar bei durchschnittlich 15,2 %. Die Inflationsraten der einzelnen Euroländer bewegen sich also alle auf einem hohen Niveau, fallen dennoch aber höchst unterschiedlich aus: Hinter der letzten Inflationsrate von 8,6 % in der Eurozone insgesamt steht eine Spannbreite von 15,9 Prozentpunkten (Abbildung 1). So weit lagen die Inflationsraten der Euroländer seit Einführung des Euro noch nie auseinander.

Abbildung 1: Inflation in der Eurozone Bild vergrößern
Bei 15,9 Prozentpunkten liegt die Spannbreite der Inflationsraten in der Eurozone aktuell.

Energie und Lebensmittel sind die größten Preistreiber

Größter Treiber der Inflation sind bereits seit April 2021 die steigenden Preise für Energie, anfangs vor allem für Öl und Benzin, jetzt auch für Gas und Strom sowie für dessen Erzeugung. Sie sind für etwas mehr als die Hälfte des gesamten Preisauftriebes verantwortlich (Abbildung 2). Im Jahr 2020 hatten hingegen noch verhältnismäßig günstige Energiepreise dafür gesorgt, dass die Gesamtinflation im Ergebnis niedrig blieb.

Abbildung 2: Beiträge zur Inflation Bild vergrößern
In Kürze: Seit Einführung des Euro lagen die Inflationsraten noch nie so weit auseinander.

In der Eurozone stiegen seit Jahresbeginn die Energiepreise um durchschnittlich 37 %. Der russische Angriff auf die Ukraine im Frühjahr dieses Jahres und die darauffolgenden Verwerfungen auf den Energiemärkten haben den Preisauftrieb allerdings noch einmal deutlich verstärkt. Den seit Anfang des Jahres durchschnittlich größten Preisauftrieb bei der Energie gab es in den Niederlanden mit 70 %, gefolgt von Belgien mit 65 % und Estland mit 59 % höheren Preisen im Vergleich zum Vorjahr (Abbildung 3). In Deutschland stiegen die Energiepreise im gleichen Zeitraum um durchschnittlich 32 %.

In Kürze: In der Eurozone lag die Kerninflation seit Jahresbeginn durchschnittlich bei 3,2%.

Auch die Lebensmittelpreise stiegen seit Jahresbeginn kräftig. Ein Grund dafür ist auch hier der Krieg in der Ukraine, welcher wegen der stockenden Ausfuhren eines der weltweit größten Weizenexporteure insbesondere die Weizenpreise stark steigen lässt. Vor allem aber machen teurere Kraftstoffe auch den Transport der Lebensmittel teurer. In der Eurozone stiegen die Lebensmittelpreise seit Jahresbeginn um durchschnittlich 6 % (Abbildung 3). Das Baltikum sowie die Slowakei verzeichnen hier den größten Auftrieb mit Inflationsraten von 11 % bis 16 %. In Deutschland wuchsen die Lebensmittelpreise im gleichen Zeitraum um 7 %.

Abbildung 3: Inflation in ausgewählten Bereichen und insgesamt Bild vergrößern

Auch die Kerninflation ist deutlich angestiegen

Allerdings sind Energie und Lebensmittel zwei Bereiche, welche üblicherweise ohnehin stärker schwankenden Preisen unterworfen sind. Ökonominnen und Ökonomen betrachten deshalb ergänzend die sogenannte Kerninflation. Diese Methode zur Inflationsmessung berücksichtigt die Preise für Energie und Lebensmittel nicht und blendet damit rund ein Viertel des „Warenkorbes“ aus, der beim Messen der Inflationsrate sonst zugrunde gelegt wird. Die Kerninflation liefert so einen besseren Eindruck dazu, wie breit der gegenwärtige Preisauftrieb ist. Hier zeigen die Daten klar, dass auch die Kerninflation sich beschleunigt hat und der Preisauftrieb sich im Warenkorb ausbreitet. In der Eurozone lag sie seit Jahresbeginn durchschnittlich bei 3,2 %. Während Deutschland genau im Eurozonen-Mittel liegt, sind das Baltikum, Slowenien und Malta mit Raten zwischen 5 % und 9 % die Euroländer mit den höchsten Kerninflationsraten.

Um 32% sind die Energiepreise seit Jahresbeginn in Deutschland gestiegen. In den Niederlanden waren es 70%.

Volkswirtschaftliche Unterschiede bedingen bereits Inflationsspektrum

Hinter dem breiten Spektrum der Inflation steht die Tatsache, dass die Eurozone aus 19 zum Teil sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften besteht. Ein wesentlicher Faktor für die Höhe der Inflation in den einzelnen Euroländern in der aktuellen Inflationsepisode ist, woher die Länder ihre Energie beziehen. Vor Kriegsausbruch importierte die Eurozone insgesamt knapp 24 % ihrer Energie aus Russland. Dabei kamen 38 % der Gasimporte, 34 % der Ölimporte und 25 % der Kohleimporte aus Russland (für alle Energieimporte gilt das Referenzjahr 2020. Datenquelle ist das Russian Energy Dependency Tool von Eurostat, welches teilweise nicht vollständige Daten schätzt). Die Abweichungen der einzelnen Euroländer von diesen Durchschnitten prägen das Spektrum der Inflation, wie auch Abbildung 3 verdeutlicht. Estland bestritt seinen Energieverbrauch mehrheitlich mit Kohle; scheinbar geringe 8 % der Energie stammten aus Gas, davon wurden aber 86 % aus Russland importiert. Deutschland bezog 31 % seiner Energie aus Russland, dabei kamen 59 % der Gasimporte, 35 % des Öls und 21 % der Kohle aus Russland. Frankreich bezog dagegen nur 8 % seiner Energie aus Russland, dabei kamen 20 % der Gasimporte, 16 % des Öls und 30 % der Kohle aus Russland. Es zeigt sich also: Je höher der Anteil an Importen von Energie und Energieträgern aus Russland, desto höher ist tendenziell auch die Energiepreisinflation.

Darüber hinaus haben die Inflationsunterschiede auch damit zu tun, wie die gestiegenen Energiepreise an die Endverbraucherinnen und -verbraucher weitergegeben werden. Das ist wiederum abhängig vom Grad der Regulierung und von den Marktstrukturen, aber auch davon, wie energieintensiv Wirtschaft und Logistik organisiert sind. Auch jenseits der Energie spielen andere Inflationstreiber eine unterschiedlich stark ausgeprägte Rolle: Für ein stark vom Tourismus abhängiges Land spielen immer noch vorhandene Lieferkettenengpässe bei Computerchips zum Beispiel eine geringere Rolle als für eine Volkswirtschaft, die diese dringend für ihre Industrie benötigt. Schließlich kommen die unterschiedlichen Bedarfe der Arbeitsmärkte hinzu, die dafür sorgen, dass der Fachkräftemangel – und damit verbunden steigende Personalkosten – von Land zu Land unterschiedlich stark auf die Preise durchschlagen.

In Kürze: Je höher der Anteil an Energieimporten aus Russland, desto höher ist tendenziell auch die Energiepreisinflation.

19 Euroländer, eine Zentralbank

Die derzeitige Inflation ist eine noch nie da gewesene Herausforderung für die Eurozone. Denn es klettern nicht nur die Preise, sondern auch die Unsicherheit über den weiteren Konjunkturverlauf ist hoch. Dass die Preise von Euroland zu Euroland unterschiedlich stark steigen, zeigt sich in dem breiten Spektrum der Inflationsraten innerhalb der Eurozone – dieses war noch nie so breit wie heute. Gleichzeitig handelt es sich bei der Inflation derzeit zu großen Teilen um „importierte Inflation“, also um Preissteigerungen, die ihren Ursprung im Ausland haben. Damit ist die Situation vor allem für die Europäische Zentralbank (EZB) kompliziert: Die Notenbank muss für alle 19 Euroländer eine Geldpolitik machen (ab 2023 sind es mit Kroatien als neuem Euroland sogar 20 Länder). Das Ziel der EZB ist dabei, dass sich die Inflationsrate bei 2 % stabilisiert. Dabei ist ihr wichtigstes geldpolitisches Instrument im Kampf gegen die Inflation der Leitzins. Erhöht die EZB diesen, verteuert sich der Kredit für Haushalte, Unternehmen und Staaten, sodass in einem komplexen, langwierigen Transmissionsprozess die Geldmenge abnimmt und sich damit die Inflation zurückzieht.

Die aktuelle Inflation ist eine Herausforderung für die Eurozone.

Dabei gilt aber: Zwar mag die Geldpolitik im Durchschnitt weiter angemessen sein, aber je breiter das Spektrum der Inflationsraten um die durchschnittliche Eurozonen-Inflationsrate ist, umso eher kann die Zinspolitik der EZB für einige Euroländer zu expansiv, für andere hingegen zu restriktiv sein. In einigen Euroländern könnten sehr hohe Inflationsraten schnellere und/oder stärkere Zinserhöhungen verlangen, während dies in Ländern mit geringerem Inflationsdruck die Konjunktur zu sehr dämpfen könnte.


In Kürze: Ziel der EZB ist es, die Inflationsrate bei 2% zu stabilisieren.

Vor diesem Hintergrund erwarten Wirtschaft und Finanzmärkte mit Spannung die nächsten Entscheidungen der EZB. Aber auch Fiskal- und Lohnpolitik sind – gemeinsam mit der Geldpolitik – gefordert, Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen eine verlässliche Grundlage für ihre wirtschaftlichen Entscheidungen zu geben. Die konzertierte Aktion der Bundesregierung zusammen mit den Sozialpartnern greift diese Herausforderung auf.


KONTAKT
DR. WOLF-FABIAN HUNGERLAND
Referat: Europäische Wirtschafts- und Währungsfragen

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