Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW haben heute die Ergebnisse des zweiten Netzstresstests (zweite Sonderanalyse Winter 22/23) vorgelegt. Sie hatten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz von Mitte Juli bis Anfang September 2022 in einer Sonderanalyse die Sicherheit des Stromnetzes für diesen Winter unter verschärften äußeren Bedingungen untersucht. Anlass dafür war, dass aufgrund der Dürre im Sommer, des Niedrigwassers in den Flüssen, des aktuellen Ausfalls rund der Hälfte der französischen Atomkraftwerke und der seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine insgesamt angespannten Lage auf den Energiemärkten eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren bestehen, die unter bestimmten Umständen zu einer Kumulation von Risiken führen. Der zweite Stresstest untersucht daher verschiedene Szenarien und nimmt die Netzsituation in den Blick, insbesondere auch das Zusammenspiel mit den europäischen Nachbarländern, da die Situation Deutschlands durch die geographische Lage und die Verbindungsleitungen zu elf europäischen Ländern besonders von der Entwicklung in Europa abhängt.

Der zweite Netzstresstest kommt zu dem Ergebnis, dass stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können. Daher werden eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen empfohlen, damit es auch in diesen sehr unwahrscheinlichen Szenarien nicht zu einer kurzzeitigen Lastunterdeckung oder Stromausfällen aufgrund von Netz-Stresssituationen kommt. Die im Stresstest empfohlen Maßnahmen sind zum Teil bereits umgesetzt oder in Umsetzung, z.B. die Nutzung von Kraftwerksreserven und die Marktrückkehr von Kohlekraftwerken. Weitere Maßnahmen sind in der unmittelbaren Vorbereitung und werden mit einer dritten Novelle des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG 3.0) umgesetzt, u.a. die zusätzliche Stromproduktion in Biogasanlagen sowie Maßnahmen zur Höherauslastung der Stromnetze/Verbesserung der Transportkapazitäten.

Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck erklärte zu den Ergebnissen: „Wir haben in Deutschland eine sehr hohe Versorgungssicherheit im Stromsystem. Wir haben genug Energie in und für Deutschland; wir sind ein Stromexportland. Aber wir sind Teil eines europäischen Systems, und dieses Jahr ist in ganz Europa ein besonderes Jahr. Der russische Angriff auf die Ukraine hat zu einer angespannten Situation auf den Energiemärkten geführt, und wir setzen alles daran, eine Gasmangellage zu vermeiden. In Frankreich fällt derzeit rund die Hälfte der Atomkraftwerke aus. Die Dürre im Sommer hat die Wasserstände in Flüssen und Seen reduziert, was die Wasserkraft in Nachbarländern schwächt und auch bei uns den Transport von Kohle zu den Kraftwerken erschwert, die wir aufgrund der angespannten Gaslage nutzen müssen. Und der Ausbau der erneuerbaren Energien sowie der Stromnetzausbau wurden in den letzten Jahren stark gebremst, besonders negativ macht sich das im Süden unseres Landes bemerkbar. Die großen Krisen - Krieg und Klimakrisen - wirken sich sehr konkret aus. Wir haben also eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren, und der Sommer hat das mit der Trockenheit noch mal deutlich verschärft. Unter bestimmten Umständen und in ganz bestimmten Situationen können sich diese Risiken bündeln. Wegen all dieser Risiken können wir nicht sicher darauf bauen, dass bei Netzengpässen in unseren Nachbarländern genug Kraftwerke zur Verfügung stehen, die kurzfristig unser Stromnetz mit stabilisieren,“ sagte Habeck.

Er betonte: „Es ist weiterhin sehr unwahrscheinlich, dass es zu Krisensituationen und Extremszenarien kommen wird. Aber als Minister, der für die Versorgungssicherheit zuständig ist, tue ich alles, was nötig ist, um die Versorgungssicherheit vollumfänglich zu gewährleisten. Daher haben wir etliche Maßnahmen, die der Stresstest als notwendig erachtet, bereits in der Umsetzung, wie beispielsweise die Marktrückkehr der Kohlekraftwerke. Andere Maßnahmen im Netzbereich, wie vor allem die Verbesserung der Transportkapazitäten im Stromnetz, werden wir mit einer dritten EnSiG-Novelle lösen und noch diese Woche die Abstimmungen hierzu starten.“

Der Minister erklärte: „Die Ergebnisse des Stresstests bedeuten aber auch, dass wir zur Absicherung für den Notfall für den Winter 22/23 eine neue zeitlich und inhaltlich begrenzte AKW-Einsatzreserve aus den beiden südlichen Atomkraftwerken Isar 2 und Neckarwestheim schaffen. Die beiden AKW Isar 2 und Neckarwestheim sollen bis Mitte April 2023 noch zur Verfügung stehen, um falls nötig, über den Winter einen zusätzlichen Beitrag im Stromnetz in Süddeutschland 2022/23 leisten zu können. Das heißt auch: Alle drei derzeit in Deutschland noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke werden planmäßig Ende 2022 regulär vom Netz gehen. Am Atomausstieg, wie er im Atomgesetz geregelt ist, halten wir fest. Neue Brennelemente werden nicht geladen und Mitte April 2023 ist auch für die Reserve Schluss. Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie und die hochradioaktiven Abfälle belasten zig nachfolgende Generationen. Mit der Atomkraft ist nicht zu spielen. Eine pauschale Laufzeitverlängerung wäre daher auch im Hinblick auf den Sicherheitszustand der Atomkraftwerke nicht vertretbar. Mit der Einsatzreserve tragen wir den Risiken der Atom-Technologie und der Sondersituation im Winter 22/23 Rechnung. So können wir im Fall der Fälle agieren. Die AKW- Einsatzreserve ist eine zielgenaue Antwort.“

Habeck hob hervor: „Die Situation im Stromsystem in diesem Winter ist nicht mit der im Winter 2023/24 zu vergleichen. Für das nächste Jahr werden die Grundbedingungen andere sein, weil durch die längere Vorlaufzeit bereits beschlossene Maßnahmen stärker wirken und noch weitere umgesetzt werden können. Wir erhöhen die Gas-Importkapazität über schwimmende LNG-Terminals (FSRU) zum Winter 23/24 so stark, dass keine Gasmangellage an den Gaskraftwerken mehr zu befürchten ist. Wir steigern bis dahin die Verfügbarkeit von Strom aus Biogas-Anlagen und aus Erneuerbaren-Anlagen. Das Gleiche gilt für die Leistungsfähigkeit der Stromnetze, die Kraftwerkskapazitäten und flexible Lasten. Damit werden bis 2023/24 die Unsicherheitsfaktoren dieses Winters deutlich reduziert und die Versorgungslage verbessert.“

Näher zum Stresstest:

Der zweite Stresstest wurde von den vier Übertragungsnetzbetreibern im Zeitraum von Mitte Juli bis Anfang September 2022 durchgeführt. Im Vergleich zur ersten Sonderanalyse (März bis Mai 2022) wurden die Annahmen zu den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf den Energiemarkt aus Vorsorgegründen deutlich verschärft und stufenweise hochskaliert. Zusätzlich berücksichtigen die Berechnungen weitere mögliche Engpässe in der Kraftwerksverfügbarkeit.

Die Analyse umfasst drei kritische Szenarien (kritisches Szenario +, sehr kritisches Szenario ++ und Extremszenario +++), die deutlich von den Referenzszenarien aus den gesetzlich vorgeschriebenen Analysen zur Stromversorgungssicherheit von Ende April 2022 abweichen. Auch im Vergleich zum ersten Stresstest vom Mai 2022 wurden die Annahmen zur Kraftwerksverfügbarkeit und zu Brennstoffpreisen noch einmal deutlich verschärft und je nach Szenario hochskaliert. Damit liegen der Gesamtbewertung für die Stromversorgungssituation insgesamt fünf Szenarien zugrunde – von Basisszenario der gesetzlich vorgeschriebenen Bedarfsanalyse bis hin zum Extremszenario in diesem zweiten Stresstest.

Für die drei Szenarien des zweiten Stresstests wurden in Stufen mögliche Auswirkungen einer unterschiedlich kritischen Lage auf den Energiemärkten auf den Stromsektor in Deutschland und Europa untersucht. In der neuen Berechnung wurden u.a. folgende Annahmen zugrunde gelegt:

  • Ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke kehrt nicht bis zum Winter an den Markt zurück. Im Extremszenario (+++) steht nur die Leistung von knapp zwei Drittel der französischen Atomkraftwerke zur Verfügung.
  • Nur ein Teil der möglichen Kraftwerke kehrt nach dem Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz an den Markt zurück - je nach Szenario in unterschiedlichem Ausmaß.
  • Das Niedrigwasser in den Flüssen schränkt Steinkohlelieferungen weiter ein. Die Steinkohlekraftwerke können also auch bei Verbrauchsspitzen deutlich weniger Strom produzieren, im Extremszenario am wenigsten.
  • Ein Viertel (+) bis die Hälfte (+++) der Kraftwerksleistung der Netzreserve ist nicht betriebsbereit.
  • Im kritischen Szenario ist ein Viertel der Gaskraftwerke in Süddeutschland nicht verfügbar, im Extremszenario sogar die Hälfte.
  • Die Stromnachfrage von Heizlüftern erhöht die Verbrauchsspitzen im Gigawatt-Bereich.
  • Der Gaspreis als Eingangsgröße der Berechnungen wurde in allen drei Szenarien einheitlich auf 300 EUR/MWh erhöht.

Der zweite Stresstest zeigt im Ergebnis: Eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 22/23 ist zwar sehr unwahrscheinlich, kann aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden. Damit es aber im kommenden Winter zu keinerlei Lastunterdeckungen oder Stromausfällen aufgrund von Netz-Stresssituationen kommt, sind zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung der Netzsicherheit nötig.

Konkret zeigen die Ergebnisse der Berechnungen, dass in einigen Regionen des europäischen Strommarktes in einigen Szenarien die Nachfrage ohne zusätzliche Maßnahmen nicht vollständig gedeckt werden kann. Im sehr kritischen Szenario (++) und dem Extremszenario (+++) treten solche Situationen für sehr kurze Zeiträume, das heißt einige wenige Stunden im Jahr, auch in Deutschland auf.

Im besonderen Fokus stand bei dem Stresstest vor allem die Frage, ob und in welchem Ausmaß es zu Engpässen im Stromnetz kommt. Ergebnis ist hier, dass es – bedingt durch den verzögerten Netzausbau und fehlende Erzeugungskapazitäten im Süden – in allen drei Szenarien Netzengpässe geben kann. Zur Behebung dieser Netzengpässe sind Kraftwerke aus dem Ausland (Redispatchkraftwerke) nötig, teilweise im deutlich größeren Umfang als bisher errechnet und eingeplant. Da die Versorgungslage in ganz Europa unter anderem in Folge von Dürre, Niedrigwasser und den Problemen bei französischen Atomkraftwerken angespannt ist, ist äußerst unsicher, ob diese Kraftwerksleistung bei den europäischen Partnern tatsächlich zur Verfügung stehen kann.
Daher kommt der zweite Stresstest zum Ergebnis, dass es aus Gründen der Vorsorge ein Bündel von Maßnahmen braucht, um Netzengpässe zu vermeiden. Dazu werden eine Reihe von Lösungsansätzen zur Entschärfung von kritischen Situationen empfohlen, die kombiniert werden sollten – eine Maßnahme allein reicht nicht. Wichtige Beiträge zur Netzsicherheit sind eine höhere Auslastung der bestehenden Netze durch eine Beschleunigung des geplanten witterungsabhängigen Freileitungsbetriebs, eine bessere Nutzung verschiedener Kraftwerke und Kraftwerksreserven sowie vertragliches Lastmanagement. Diese Maßnahmen sollten zwingend und dringend umgesetzt werden.

Für das sehr kritische Szenario ++ wurde in einer zusätzlichen Berechnung der mögliche Effekt einer Verfügbarkeit der drei Atomkraftwerke Emsland, Isar und Neckarwestheim im Stromnetz untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Wenn man die drei Atomkraftwerke verfügbar hält, kann dies in Stresssituationen im Stromnetz nur einen begrenzten Beitrag leisten. Zur Stabilisierung des Stromnetzes würden die drei AKW in einem sehr kritischen Szenario den Bedarf an Redispatchkraftwerken im Ausland nicht um die Nennleistung der AKW senken, sondern nur um 0,5 GW. Es bleibt auch dann ein Redispatchbedarf im Ausland von 4,6 GW (im gerechneten Szenario ++ besteht ohne AKW ein Redispatchbedarf im Ausland von 5,1 GW). Redispatchkraftwerke sind Kraftwerke, die dem deutschen Markt kurzfristig Strom zum Ausgleich von Netzengpässen zur Verfügung stellen können. Es würde zudem - gemessen am Gesamtgasverbrauch - nur minimal Gas eingespart. Insgesamt besitzt Atomenergie im Vergleich zu den anderen dringenden Maßnahmen eine untergeordnete Rolle, um in kritischen Situationen die Netzsicherheit zu gewährleisten. Es bleiben auch bei einer Nutzung der drei verbleibenden Atomkraftwerke deutliche Eingriffe in den Kraftwerkspark nötig, um die Netzsicherheit zu gewährleisten.

Näher zur Einsatzreserve:

Da der mögliche Beitrag der Atomenergie nach den Berechnungen des zweiten Stresstests begrenzt ist und Atomenergie weiterhin eine Hochrisikotechnologie ist, muss eine besonders sorgfältige und zielgenaue Ausgestaltung erfolgen, nicht zuletzt um den hohen verfassungsrechtlichen Hürden des Art. 20a GG Rechnung zu tragen. So verpflichtet Art. 20a GG den Staat in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu schützen. Die Risiken, die die Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung mit sich bringt und die Lasten, die durch Atommüll für künftige Generationen entstehen, sind daher nur dann vertretbar, wenn eine genaue Interessenabwägung erfolgt und der Grund für die Nutzung von Atomenergie genau dargelegt wird.

Daher spricht sich Minister Habeck für eine zielgenaue AKW-Einsatzreserve aus, die sowohl zeitlich als auch in ihrem Anwendungsbereich begrenzt ist. Die AKW-Einsatzreserve hat die Risiken der Atomenergie im Fokus und trägt der Sondersituation im Winter 2022/23 Rechnung und ist damit zeitlich begrenzt bis Mitte April 2023. Der Anwendungsbereich ist inhaltlich begrenzt auf die südlichen Kraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim. Nur für diesen Zeitraum und nur für die zwei süddeutschen AKWs ist ein eng konditionierter Notfalleinsatz der AKWs zur Abwehr einer konkreten Gefahr für die Versorgungssicherheit erforderlich und damit im Rahmen der Verfassung eine noch vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers. Für den norddeutschen Raum sind hingegen andere, weniger risikoreiche Instrumente einsetzbar. So können hier kurzfristig zusätzliche Ölkraftwerke in Form von Kraftwerksschiffen sogenannten „Power-Barges“ eingesetzt werden. Diese stehen für Isar 2 und Neckarwestheim nicht zur Verfügung.

Die Einsatzreserve aus Isar 2 und Neckarwestheim soll zudem bewusst als Reserve ausgestaltet werden und nur dann eingesetzt werden, wenn zu befürchten ist, dass die anderen Instrumente nicht ausreichen, um eine Versorgungskrise abzuwenden. Die Ausgestaltung der Einsatzreserve wird die notwendigen technischen Anforderungen der Atomkraft berücksichtigen. Eine Verlängerung über Mitte April 2023 hinaus oder eine Wiederbelebung im Winter 23/24 ist aufgrund des Sicherheitszustands der AKW und den grundsätzlichen Erwägungen zu den Risiken der Atomkraft ausgeschlossen.

Die Einsatzreserve soll im Energiesicherungsgesetz geregelt werden. Sie setzt zudem voraus, dass keine Abstriche von den üblichen Sicherheitsanforderungen gemacht werden. Entsprechend ist eine belastbare Prüfung des Sicherheitszustandes nötig.

Um zu entscheide, wann die Reserve abgerufen wird, wird ein Monitoring der Bundesnetzagentur zur Bewertung der Strommarkt- und Netzsituation frühzeitig die Entwicklungen im Stromsystem (Kohlevorräte, Kraftwerkverfügbarkeiten, Gasverfügbarkeit etc.) aufzeigen. Auf diese Weise soll eine Analyse der stromseitigen Versorgungssicherheit anhand unterschiedlicher Indikatoren ermöglicht werden. Diese dient dann als Grundlage für die Entscheidung über eine mögliche Aktivierung der AKW-Einsatzreserve. Es werden u. a. die Parameter überwacht, die in den Stresstest-Szenarien kritische Markt- und Netzsituationen nach sich ziehen. Ziel sollte eine Bewertung der Gesamtsituation und eine frühzeitige Bewertung alternativer Maßnahmen sein.

Bei kritischen oder fragwürdigen Entwicklungen erfolgt unverzüglich eine vertiefte Analyse mit der Bundesnetzagentur und den Übertragungsnetzbetreibern. Nach Vorschlag des BMWK soll die Bundesnetzagentur die Empfehlung für den Abruf der Reserve im Fall der Fälle aussprechen; die Entscheidung soll dann über Regierungsverordnung mit Widerspruchsmöglichkeit des Bundestages erfolgen. Die Wiederanfahrgenehmigung erteilt die zuständige Atomaufsichtsbehörde.