Wie lässt sich Wohlfahrt messen? – Ergebnisse der Konsultation des BMWK zur Wohlfahrtsmessung im Jahreswirtschaftsbericht

Mit dem erstmals im Jahreswirtschaftsbericht (JWB) 2022 eingeführten Kapitel zur Wohlfahrtsmessung (S. 79 –101) verfolgt die Bundesregierung das Ziel, wirtschaftspolitische Kennziffern wie das Bruttoinlandsprodukt durch andere Indikatoren zu ergänzen und weitere Aspekte von Wohlfahrt und Nachhaltigkeit in den Blick zu nehmen, die für die Gesamtschau der Wirtschafts- und Finanzpolitik von besonderer Bedeutung sind. Dazu wurde ein Set aus über 30 Einzelindikatoren erarbeitet, die neben ökonomischen auch ökologische und soziale Dimensionen von Wohlfahrt stärker berücksichtigen. Damit orientiert sich die Indikatorik am Leitbild der Sozial-ökologischen Marktwirtschaft.

Die im JWB 2022 erstmals veröffentlichte Wohlfahrtsindikatorik wird seither kontinuierlich überprüft und verbessert. Nachdem das Kapitel der Wohlfahrtsmessung in seiner zweiten Auflage im JWB 2023 (S. 107–133) bereits punktuell überarbeitet wurde, sollen nun Impulse aus einem breit angelegten Beteiligungsprozess aufgegriffen werden. Dazu hat das BMWK in einem ersten Schritt eine öffentliche Online-Konsultation für alle interessierten Bürgerinnen und Bürger durchgeführt. In der sechs Wochen laufenden Befragung konnten insgesamt 12 Fragen beantwortet werden. Neben der Auswahl vorgegebener Antwortoptionen war bei einigen der Fragen auch eine Texteingabe in einem Freifeld möglich.

Insgesamt 2.732 Personen haben sich an der Konsultation beteiligt und damit wertvolle Anregungen für den weiteren Prozess gegeben. Die Ergebnisse der Konsultation werden nachfolgend vorgestellt.

Kasten 1: Methodische Herangehensweise und Besonderheiten der Konsultation

Bei der Interpretation der Ergebnisse sind die methodischen Besonderheiten der Konsultation zu beachten. Da es sich in diesem Fall um eine offene Online-Umfrage handelt, an der alle Interessierten teilnehmen konnten, sind die Ergebnisse nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerung.

Die Teilnahme an der Umfrage erforderte nur die Angabe von Vorname, Name und der E-Mail-Adresse. Demographische Merkmale wie Alter oder Geschlecht wurden bewusst nicht abgefragt, um möglichst wenige persönliche Daten zu sammeln und die Teilnahmehürden niedrig zu halten.

Um mit diesen methodischen Besonderheiten der Konsultation umzugehen und die Interpretation der Ergebnisse zu verbessern, wurden in der Auswertung der Ergebnisse verschiedene Prüfungen der Robustheit eingebaut. Ein Beispiel hierfür ist die Identifikation unterschiedlicher Antwortmuster von Personen, denen das Kapitel bereits bekannt war und solchen, die es nicht kannten.

Weiterhin hat jede Frage im Fragebogen leicht unterschiedliche Antwortzahlen, weshalb sich die Grundgesamtheit von Frage zu Frage unterscheiden kann. Insgesamt wurde der Fragebogen 5.036 Mal aufgerufen, 1.308 Personen haben den Fragebogen vollständig und 1.424 Personen teilweise ausgefüllt. Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf diejenigen Personen, die die Einzelfragen jeweils beantwortet haben.

Zentrale Ergebnisse der Konsultation

Die Vorstellung der Ergebnisse wird entsprechend der Struktur des Fragebogens in die folgenden Abschnitte aufgegliedert: (a) Einstiegsfragen, (b) Struktur und Lesbarkeit, (c) Themenbereiche und Indikatoren, (d) Vorschläge für neu aufzunehmende Indikatoren und (e) Weitere Anmerkungen und Ideen.

(a) Einstiegsfragen

Bei den Einstiegsfragen wurde gefragt, ob die Teilnehmenden eine ergänzende Wohlfahrtsmessung im JWB grundsätzlich befürworten, ob ihnen das entsprechende Kapitel im JWB vor Beantwortung des Fragebogens bekannt war und wenn „Ja“, wie die Person davon erfahren hat (vgl. Abbildung 1). Fast drei Viertel der Teilnehmenden befürworten die Integration einer Wohlfahrtsmessung im JWB. Hingegen kannten lediglich 30 % das neue Kapitel. Davon wiederum hat gut die Hälfte aus der Presse von der Wohlfahrtsmessung, im JWB erfahren und 22 % haben den JWB tatsächlich gelesen. Die Umfrage dürfte insofern nicht nur die Bekanntheit des Kapitels zur Wohlfahrtsmessung, sondern auch des JWB insgesamt erhöht haben.

ABBILDUNG 1: AUSWERTUNG FRAGE 1 UND 2 Bild vergrößern

Kasten 2: Indikatoren zur Wohlfahrtsmessung im Jahreswirtschaftsbericht 2023

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Grundbedürfnisse

• Bruttonationaleinkommen je Einwohner
• Reallohnentwicklung
• Erwerbstätigenquote
• Arbeitsproduktivität
• 30- bis 34-jährige akademisch Qualifizierte oder beruflich Höherqualifizierte
• Entwicklung von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage
• Vorzeitige Sterblichkeit
• Anteil von Personen mit hohen Wohnkosten
• Erreichbarkeit zentraler Einrichtungen der Daseinsvorsorge

Soziale Gerechtigkeit und Teilhabe

• Regionale Einkommensverteilung
• Gini-Koeffizient des Einkommens nach Sozialtransfers
• Frauen in Führungspositionen
• Existenzgründungen von Frauen
• Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern
• Kinder in Ganztagsbetreuung in Tageseinrichtungen
• Frühe Schulabgängerinnen und Schulabgänger

Zukunftsfähigkeit von Staat und Wirtschaft

• Bruttoanlageinvestitionen
• Private und öffentliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung
• Innovatorenquote
• Gründungsquote und Anteil innovativer Gründungen
• Breitbandausbau
• Welthandelsanteil bei forschungsintensiven Waren
• Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einer Staatsangehörigkeit aus der EU und Drittstaaten
• Öffentliche Schuldenquote
• Abstand zur schuldenstandstabilisierenden Defizitquote
• Kredit/BIP-Lücke

Ökologische Grenzen

• Treibhausgas-Emissionen
• Investitionen in Maßnahmen für den Klimaschutz
• Anteil erneuerbarer Energien am Brutto-Endenergieverbrauch
• Endenergieproduktivität
• Gesamtrohstoffproduktivität
• Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche
• Emissionen von Luftschadstoffen
• Nitratminderung im Grundwasser

(b) Struktur und Lesbarkeit

Die Mehrheit der Teilnehmenden sieht bei der Struktur und Lesbarkeit des JWB-Kapitels zur Wohlfahrtsindikatorik Verbesserungspotenzial: 61 % finden diese bisher „weniger gut“ oder „nicht gut“ (vgl. Abbildung 2). Ferner wurden die Teilnehmenden gefragt, ob das Kapitel um eine einseitige Gesamtübersicht aller Indikatoren ergänzt werden sollte. Mit 81 % erhielt dieser Vorschlag eine große Zustimmung. Die Anzahl von bislang 34 Indikatoren, die im entsprechenden Kapitel des JWB 2023 dargestellt werden, wird häufig als zu hoch eingeschätzt – dies dürfte sich auch auf die wahrgenommene Struktur und Lesbarkeit auswirken. Knapp die Hälfte der Antwortenden gab an, dass es „zu viele“ Indikatoren gebe. Für 34 % ist die bisherige Anzahl passend und für 22 % könnte die Anzahl noch ausgeweitet werden.

In den Freitextfeldern wurde von einigen Teilnehmenden kritisiert, dass Indikatoren teilweise zu komplex sind und die Sprache im JWB-Kapitel zu wissenschaftlich; auch dies dürfte sich auf die Bewertung der Lesbarkeit auswirken.

ABBILDUNG 2: AUSWERTUNG FRAGE 3, 4 UND 7 Bild vergrößern

(c) Themenbereiche und Indikatoren

Anschließend wurden die Teilnehmenden gefragt, welche Themenbereiche bislang zu wenig oder zu stark adressiert werden.

Die Top 3 der unzureichend adressierten Themenbereiche sind Bildung, Soziales und Verteilung sowie Gesundheit. Als übergewichtet adressiert angesehen werden Wirtschaft, Klimaschutz und Geschlechtergerechtigkeit. Zudem wurde für jeden Themenbereich die Differenz zwischen dem Anteil derjenigen, die den Themenbereich als unzureichend adressiert sehen (=„wichtig“) und dem Anteil derjenigen, die den Themenbereich als übergewichtet adressiert betrachten (=„weniger wichtig“) gebildet. Aus den Differenzen wurde eine Rangliste abgeleitet, die zeigt, in welchen Bereichen die Teilnehmenden an der Konsultation in der Summe eine stärkere Berücksichtigung wünschen. Auch nach dieser Auswertung stehen Bildung, Gesundheit, Wohnen und Erreichbarkeit sowie Soziales und Verteilung ganz oben, wohingegen Klimaschutz, Wirtschaft und Geschlechtergerechtigkeit am Ende zu finden sind.

Wie in Tabelle 1 zu erkennen ist, gehen die Antworten bei manchen Themenbereichen stark auseinander. Hier zeigt sich eine starke Polarität der Einschätzungen. Beispiele sind etwa die Bereiche Klimaschutz und Wirtschaft. Hier gibt es sowohl viele Stimmen, die diese Bereiche als unzureichend adressiert empfinden, als auch viele Stimmen, die den Themenbereich in der Wohlfahrtsindikatorik als übergewichtet sehen.

TABELLE 1: AUSWERTUNG FRAGE 5 UND 6 – RANGFOLGEN DER THEMENBEREICHE Bild vergrößern

In vergleichbarer Weise konnten Teilnehmende auch die 34 Einzelindikatoren aus dem Kapitel Wohlfahrtsmessung im JWB 2023 beurteilen. Die Antworten liefern Hinweise dazu, welche konkreten Indikatoren von den Antwortenden als „besonders wichtig“ sowie „ungeeignet“ angesehen werden. Es konnte ferner auch eingetragen werden, aus welchem Grund ein Indikator als ungeeignet eingeschätzt wird. Neben inhaltlichen Begründungen wurde oft angeführt, dass die Indikatoren teilweise sehr komplex und schwer verständlich seien oder einen zu spezifischen Aspekt der Wohlfahrt abbilden würden.

Die Top 3 der von den Teilnehmenden als besonders wichtig eingestuften Indikatoren sind Reallohnentwicklung, Bruttonationaleinkommen je Einwohner und Erwerbstätigenquote. Die Liste der ungeeignetsten Indikatoren führen an: 30- bis 34-jährige akademisch Qualifizierte oder beruflich Höherqualifizierte – maßgeblich aufgrund der Nichtberücksichtigung von Berufsausbildungen, Frauen in Führungspositionen – maßgeblich mit Blick auf die Frage der Berücksichtigung von Qualifikation und Leistung sowie Existenzgründungen von Frauen – unter anderem mit Verweis auf die Wichtigkeit der Gründungsquote insgesamt.

Auch hier wurde aus den Antworten eine Rangliste der Bedeutung der einzelnen Indikatoren ermittelt. Danach werden die Indikatoren Reallohnentwicklung, Erwerbstätigenquote und Erreichbarkeit zentraler Einrichtungen der Daseinsvorsorge als am wichtigsten und Existenzgründungen von Frauen, Frauen in Führungspositionen und 30- bis 34-jährige akademisch Qualifizierte oder beruflich Höherqualifizierte als am wenigsten wichtig beurteilt.

Die Resultate der Einzelindikatoren widersprechen dabei auf den ersten Blick in Teilen den Einschätzungen zu den Themenbereichen. So scheinen den Antwortenden solche Indikatoren besonders wichtig zu sein, die eng an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt sind. Gleichzeitig belegt der Themenbereich Wirtschaft in der Gesamtbetrachtung den vorletzten Platz. Ein Grund für diese gegensätzlichen Ergebnisse könnte sein, dass die Wohlfahrtsmessung das BIP und weitere wirtschaftspolitische Kennziffern ergänzen soll und deshalb der Themenbereich Wirtschaft von den Teilnehmenden grundsätzlich als überrepräsentiert bewertet wird, gleichzeitig jedoch einzelne Indikatoren aus diesem Bereich eine hohe Relevanz für die Teilnehmenden aufweisen.

Gegensätzliche Einschätzungen zeigen sich auch bei den Einzelindikatoren: So schätzen knapp 25 % der Teilnehmenden das Bruttonationaleinkommen je Einwohner als besonders wichtigen Indikator ein, gleichzeitig halten 16 % den Indikator für ungeeignet – insbesondere deshalb, da er Verteilungsaspekte außen vor lässt.

TABELLE 2: AUSWERTUNG FRAGE 9 UND 10 – RANGFOLGEN DER INDIKATOREN Bild vergrößern

(d) Vorschläge für neu aufzunehmende Indikatoren und Themenbereiche

Jede an der Umfrage teilnehmende Person konnte bis zu fünf weitere Indikatoren für das Indikatorenset vorschlagen. Um die Freitextfelder auszuwerten, wurden thematisch passende, übergeordnete Kategorien gebildet und jeder Vorschlag entsprechend einsortiert. Im Falle einer einmaligen Nennung bzw. einer sehr geringen Zahl an themenverwandten Vorschlägen wurde keine eigene Kategorie gebildet und der Indikator unter „Sonstige“ einsortiert.

Tabelle 3 zeigt die am häufigsten genannten Bereiche. Dabei liegt die Kategorie subjektive Lebenszufriedenheit vorn. Dies deckt sich mit einem weiteren Befund der Konsultation: Insgesamt zwei Drittel der Teilnehmenden sprechen sich bei der entsprechenden Frage für eine Aufnahme von subjektiven Indikatoren aus. Weitere häufig genannte Themenbereiche sind Umwelt und Naturschutz sowie Migration und Integration.

Teilnehmende konnten zudem auch selbst übergeordnete Themenbereiche benennen, die künftig berücksichtigt werden sollen. Die hier am häufigsten genannten Themenbereiche sind subjektive Lebenszufriedenheit, Migration und Integration sowie Demokratie und Meinungsfreiheit. Hier zeigt sich demnach eine Konvergenz zwischen neu vorgeschlagenen Themenbereichen und neu vorgeschlagenen Indikatoren.

TABELLE 3: AUSWERTUNG FRAGE 11 – RANGFOLGE DER INDIKATORENVORSCHLÄGE NACH KATEGORI- SIERUNG UND ANTEIL DER NENNUNGEN Bild vergrößern

(e) Weitere Anmerkungen und Ideen

Am Ende des Fragebogens hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, weitere Anmerkungen und Ideen zur Wohlfahrtsindikatorik in einem Freitextfeld einzutragen. Dies wurde beispielsweise genutzt, um für die öffentliche Beteiligung zu danken, die Unterstützung zur Wohlfahrtsmessung zu betonen, Kritik am Fragebogen oder an der aktuellen Schwerpunktsetzung der Wohlfahrtsmessung zu äußern. Aufgrund der großen Heterogenität der Antworten ist eine systematisierte Auswertung zwar nicht möglich, jedoch wurden alle Eintragungen gelesen. Mehrfach genannt wurde z. B. das Anliegen, in der Wohlfahrtsmessung den Menschen mit seinen individuellen Betrübnissen stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Einige Teilnehmende äußern jedoch auch die Befürchtung, dass mit der Wohlfahrtsmessung die derzeit im internationalen Vergleich schwache wirtschaftliche Entwicklung relativiert werde.

Abbildung 3 gibt anhand einer Word-Cloud einen systematischen Eindruck der hier oft genannten Wörter. Der Eindruck bzw. die Erkenntnisse aus den oben dargestellten Ergebnissen spiegeln sich auch hier wider.

ABBILDUNG 3: VISUALISIERUNGSBEISPIEL WORD-CLOUD ANHAND VON FRAGE 12 Bild vergrößern

Wie geht es nun weiter?

Aus den Ergebnissen der Konsultation lässt sich deuten, dass die Idee der Wohlfahrtsmessung in der Gesellschaft tendenziell auf Zustimmung trifft. Der Ansatz der Bundesregierung zeigt somit in die richtige Richtung. Aus den gesammelten Rückmeldungen können wertvolle Impulse für die strukturelle und inhaltliche Weiterentwicklung der Wohlfahrtsberichterstattung abgeleitet werden.

Die im Zuge der Konsultation des BMWK gewonnenen Erkenntnisse werden nun innerhalb der Bundesregierung gespiegelt und bei der Weiterentwicklung der Wohlfahrtsmessung im JWB in den kommenden Jahren berücksichtigt.

Die Auswertung der Online-Konsultation bildet zugleich die Grundlage für den zweiten Schritt des breit angelegten Konsultationsprozesses. Dabei sollen Roundtables mit Expertinnen und Experten einzelne, in der Online-Befragung eingebrachten Aspekte nochmals aufgreifen und detailliert diskutieren.

KONTAKT & MEHR ZUM THEMA

Referat: Wirtschaftspolitische Analyse

schlaglichter@bmwk.bund.de

Jahreswirtschaftsbericht 2022 der Bundesregierung:
www.bmwk.de/jwb-2022 (Kapitel zur Wohlfahrtsmessung: S. 79-101)

Jahreswirtschaftsbericht 2023 der Bundesregierung:
www.bmwk.de/jwb-2023 (Kapitel zur Wohlfahrtsmessung: S. 107-133)