Ökonomie der Zeitenwende

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ – mit diesen Worten begann Bundeskanzler Olaf Scholz seine Regierungserklärung am 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Die Worte bringen auf den Punkt, dass dieser Krieg auch uns in Deutschland und Europa betrifft – und das in vielerlei Hinsicht.

Bei einer Konferenz unter dem Motto „Ökonomie der Zeitenwende“ im Bundeskanzleramt am 19. Juni 2023 diskutierten Ökonominnen und Ökonomen mit der Politik, inwieweit die neue geopolitische Situation die Wirtschaftspolitik, Menschen und Gesellschaft verändert. Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramtes, unterstrich in seiner Begrüßung, wie wichtig es angesichts der vielfältigen Brüche ist, dass Wissenschaft und Politik zusammenkommen.

Verändern wir uns genug?

Prof. Dr. Ulrike Malmendier von der UC Berkeley, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, stellte unter der Überschrift „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis – die Zeiten ändern sich und wir ändern uns in ihnen“ die Frage in den Raum, ob wir uns bislang angesichts der neuen Zeiten in ausreichendem Maße mitverändern oder ob wir die Situation unterschätzen und zu wenig auf veränderte Bedingungen reagieren.

Malmendier stellte heraus, dass einschneidende Erlebnisse auf Menschen wirken und ihr Entscheidungsverhalten auch langfristig verändern – also selbst dann noch, wenn Krisen vorbei sind. Als Beispiel führte sie an, dass die Generation, die in jungen Jahren die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren in den USA erlebt hat, die so genannten „Depression Babies“, deutlich weniger am Aktienmarkt partizipiere als andere Generationen.

Allerdings: So wie es eine Übergewichtung persönlicher Erfahrungen für das Entscheidungsverhalten gebe, gebe es auch eine Untergewichtung existierender Phänomene, mit denen oder deren Konsequenzen es (noch) keine persönlichen Erfahrungen gibt. Zu solchen nichtgemachten Erfahrungen zählte sie den Klimawandel, die neue geostrategische Situation und den Arbeitskräftemangel. Unweigerlich schließe sich hier die Frage an: Muss die Politik den Menschen bestimmte Dinge – wie etwa Energiepreissteigerungen – verstärkt zumuten? Oder andersherum: Wie lässt sich sicherstellen, dass wir unser Entscheidungsverhalten an eine neue Lage anpassen, ohne dass wir zunächst schlechte persönliche Erfahrungen damit machen müssen? Malmendier verwies dazu auf die Kraft von Narrativen und ermunterte die Wissenschaft dazu,bei dieser notwendigen öffentlichen Kommunikation auch in der wirtschaftspolitischen Debatte zu unterstützen.

Wir wissen jetzt, dass die persönliche Erlebniswelt eine viel stärkere Rolle im menschlichen Entscheidungsverhalten spielt als früher angenommen. Es geht nicht nur um objektive Fakten und Wissen, sondern auch um anschauliche Kommunikation und greifbares Vermitteln. Wissenschaft und Politik könnten hier stärker Hand in Hand arbeiten.
- Prof. Dr. Ulrike Malmendier

Neue Phase in der globalen Zusammenarbeit

Der Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Adam Tooze von der Columbia University in New York betonte in seiner Keynote die Radikalität der aktuellen Zeit. Der Angriff Putins auf die Ukraine markiere, dass sich die globale Weltordnung in einer Krise befinde. Diese Spannungen hätten sich bereits in Putins Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 gezeigt. Im Zentrum der geopolitischen Situation stehe der Wettbewerb mit China, in einer Zeit, in der es einmalige technologische Entdeckungen gebe. Die USA stünden innen- wie außenpolitisch unter Druck; der Inflation Reduction Act, der Klimaschutz, den Wettbewerb mit China und gesellschaftliche Herausforderungen gemeinsam adressieren solle, sei Ausdruck davon. Zugleich befinde sich auch China infolge der Covid-19-Pandemie in einer schwierigen innenpolitischen Situation.

Für Deutschland stellten sich sicherheitspolitisch wie auch wirtschaftspolitisch Fragen: Wie es sich in der beginnenden neuen Phase der Multipolarität positionieren soll und inwiefern Sicherheitspolitik und Wirtschaftspolitik miteinander verbunden sind. Dabei gelte es zu beachten, dass die Zeitenwende nicht nur den europäischen Kontinent betreffe, sondern die ganze Welt. So sei es etwa ein Novum, dass sich afrikanische Staats- und Regierungschefs zu einer Friedensmission für die Ukraine zusammengeschlossen hätten.

Auch Prof. Dr. Markus Brunnermeier von der Princeton University verwies auf die globalen Dimensionen der Krise. Zeitenwende bedeute, neu denken zu müssen. Vorher habe es ein stabiles System gegenseitiger Abhängigkeiten gegeben.

In der heutigen Situation funktioniere dieses System nicht mehr; dadurch bedürfe es neuer länderspezifischer Resilienzen, die früher nicht nötig waren. Dies führe dazu, dass Länder weniger in die globale multilaterale Resilienz investieren – ein Resilienzparadox. Wenn Produktion zurückverlagert werde (Reshoring), würden darunter nicht nur Schwellen- und Entwicklungsländer leiden, sondern auch Deutschland, da Absatzmärkte wegbrächen. Multisourcing sei der bessere Weg, um globale Wertschöpfungsketten resilient aufzustellen. Dabei stellten sich viele Fragen – auch, inwieweit es gelinge, bilaterale Beziehungen auf Augenhöhe zu gestalten und auch einen gewissen Technologietransfer – insbesondere im Klimabereich – zuzulassen. Ungeschicktes wirtschaftspolitisches Agieren könne sicherheitspolitische Auswirkungen haben.

In seinem Vortrag zur europäischen Dimension der Industriepolitik betonte Dr. Jeromin Zettelmeyer von der Denkfabrik Bruegel, dass es darum gehen müsse, gleichzeitig die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, die Auswirkungen von Import- und Exportschocks zu verringern und eine angemessene Antwort auf die weltweiten industriepolitischen Maßnahmen zu geben. Er stellte klar, dass diese Ziele ohne Reformen zur Vertiefung und Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes nicht erreicht werden könnten.

Strategisch aufstellen in geopolitisch schwierigen Zeiten

Prof. Dr. Monika Schnitzer von der LMU München, Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, verwies darauf, dass China für Deutschland aktuell das wichtigste Handelsland sei. Deutschland sei in vielen Bereichen abhängig. Sie warb dafür, mehr Druck auf Investoren auszuüben und Stresstests durchzuführen, um die Abhängigkeiten transparenter zu machen und um ggf. gegensteuern zu können. Der Staat müsse strategisch wichtige Güter identifizieren und dort gezielt staatliche Förderung einsetzen. Schnitzer warnte zugleich davor, den Arbeitskräftemangel zu unterschätzen, und forderte, dass der Bund sich beim Thema Bildung stärker einbringen solle. Nach wie vor gebe es eine extreme Korrelation zwischen Einkommen der Eltern und Bildung, hier müsse dringend angesetzt werden. Dazu gehöre auch, wissenschaftliche Ländervergleiche zu ermöglichen; dazu seien Daten auf Länderebene, wie etwa Pisa-Ergebnisse, nutzbar zu machen. Darüber hinaus sei Zuwanderung nötig: Um den Erwerbstätigenrückgang infolge des demographischen Wandels auszugleichen, bedürfe es einer Netto-Zuwanderung von 400.000 Menschen (nicht Arbeitskräften) und dementsprechend einer Brutto-Zuwanderung von 1,5 Millionen Menschen pro Jahr (siehe Abbildung 1).

ABBILDUNG 1: VERSCHIEDENE SZENARIEN FÜR D AS DEUTSCHE ARBEITSKRÄFTEPOTENZIAL

Quelle: Vortragsfolien Prof.Dr. Monika Schnitzer, Sachverständigenratsgutachten 22/23, www.bundesregierung.de/econzeitenwende

Dr. Elga Bartsch, Abteilungsleiterin Wirtschaftspolitik im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, warb dafür, den Strukturwandel im Sinne einer transformativen Angebotspolitik aktiv zu gestalten und nicht bei öffentlichen Investitionen zu sparen. Eine undifferenzierte angebotsorientierte Politik funktioniere in diesen Zeiten nicht. Vielmehr müsse Angebotspolitik verteilungspolitisch, klimapolitisch und arbeitsmarktpolitisch ausgerichtet sein und die Problemlagen ernst nehmen. Um eine Angebotsausweitung in bestimmten, für die Transformation wichtigen Bereichen zu erreichen, müsse man sich auch prozesspolitischer Instrumente bedienen und die Synergien zwischen Angebots- und Prozesspolitik nutzen.

Wissenschaftliche Politikberatung wichtiger denn je

Gleich vier Vorträge befassten sich mit den energiepolitischen Konsequenzen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und dem notwendigen Umbau des Energiesystems. Dabei wurde eines betont: Die Zukunft ist ungewiss. Niemand weiß, wie sich Energiepreise langfristig verändern werden, wie das Energiesystem der Zukunft aussieht, wie viel Wasserstoff importiert werden wird und woher. Von solchen Faktoren hängt aber zugleich viel ab. Wirtschaftspolitik ist gewissermaßen eine Wette auf die Zukunft, denn ob die Annahmen eintreten, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden, zeigt sich erst im Nachhinein. Umso wichtiger ist es, Szenarien als solche kenntlich zu machen und die getroffenen Annahmen transparent darzustellen sowie kritisch zu diskutieren. An dieser Stelle zeigte sich der enorme Bedarf für entsprechende wissenschaftliche Arbeiten und einen guten Austausch zwischen Wissenschaft und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung ist wichtiger denn je.

Dazu braucht es aber auch entsprechende Daten. Die Ökonominnen und Ökonomen forderten die Politik auf, den Zugang zu Daten deutlich zu verbessern. So seien etwa – über die bereits genannten Daten im Bildungsbereich hinaus – u. a. weitere Arbeiten zur Ermittlung so genannter Elastizitäten notwendig, also zur Frage, wie stark Haushalte und Unternehmen auf Preisänderungen reagieren, um wirtschaftspolitische Maßnahmen zielgenauer zu gestalten.

Wie kann die Transformation gelingen?

Dr. Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) und Mitglied im Expertenrat für Klimafragen der Bundesregierung, stellte die Frage, ob wir die Energiekrise als Chance für die Transformation genutzt haben. Dabei stellte sie heraus, dass mit Blick auf Emissionsminderungen die Situation trügerisch sei: Ohne Energiekrise wären im vergangenen Jahr etwa 9 Millionen Tonnen CO2 mehr angefallen. Große Probleme sah sie – das sei wenig überraschend – bei den fossilen Heizstrukturen und dem fossilen Pkw-Bestand. Lösungswege lägen in einer Kombination aus Beschleunigung des Aufbaus erneuerbarer Energien, ordnungsrechtlichen Maßnahmen und der CO2-Bepreisung. Im Gegenzug dazu brauche es als sozialen Ausgleich schnellstmöglich einen Direktzahlungsmechanismus zur Rückverteilung der Einnahmen aus der Bepreisung.

Prof. Dr. Veronika Grimm von der FAU Erlangen Nürnberg, ebenfalls Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, hob die Schlüsselfunktion der Sektorkopplung für die Wärme-, Mobilitäts- und Industriewende hervor. Um Anreize zum dafür notwendigen Ausbau des Stromangebots zu schaffen, bedürfe es einer Stärkung des europäischen Strommarkts. Anpassungen des Marktdesigns müssten etwa dafür sorgen, dass etwa Erzeugungskapazitäten dort zugebaut werden, wo sie systemdienlich sind, und Anreize zur Schaffung von Flexibilitäten verbessert werden. Insbesondere beim Wasserstoff, der künftig in großen Mengen im portiert werden müsse, sei der Aufbau neuer Märkte notwendig. Die Mitgliedsstaaten der EU sollten aktiv ein globales Handelssystem etablieren. Grimm warb dafür, Lehren aus den Gasmärkten zu ziehen und von vornherein monopolartige Strukturen im Wasserstoffmarkt zu verhindern. Zudem sei die Kooperation, etwa mit Frankreich, wichtig beim Ausbau der Transportkapazitäten für Wasserstoff.

Politik muss den Rahmen setzen

Einigkeit bestand darin, dass der Staat den Rahmen für eine ambitionierte Klimapolitik setzen muss. Mehrfach wurde die CO2-Bepreisung als entscheidendes Element guter Rahmenbedingungen für Transformation und Klimaschutz betont, um entsprechende Verhaltensänderungen bei Haushalten und Unternehmen hervorzurufen. Auch dabei wurde deutlich, wie wichtig Kommunikation ist: Eine Steigerung des CO2-Preises auf 200-300 Euro die Tonne, die nach einer Analyse der OECD zur Erreichung der Einsparziele bis 2030 klimapolitisch notwendig ist, entspreche einer Zunahme des Gaspreises um nur 6– 8 Cent. Das wirke weit weniger bedrohlich.

Dr. Philipp Nimmermann, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, berichtete, dass aktuell die Planungen für das Wasserstoffkernnetz auf Hochtouren laufen. Die Fernleitungsnetzbetreiber haben Mitte Juli einen ersten Planungsstand für das Wasserstoffkernnetz veröffentlicht, welches die erste Stufe für den Hochlauf der Wasserstoff-Infrastruktur in Deutschland darstelle. Hinsichtlich der Finanzierung werde das Ziel eines privatwirtschaftlichen Aufbaus des Wasserstoffkernnetzes verfolgt, das durch Netzentgelte finanziert werden solle. Details würden aktuell noch geklärt, u. a. die Möglichkeit einer subsidiären Teilabsicherung durch den Bund.

Dr. Steffen Meyer, Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt, hob hervor, dass man beim Monitoring der Energiewende gut vorangekommen sei; bei Wind an Land sei die Darstellung mittlerweile „landesscharf“. Er warb zugleich um Verständnis dafür, dass die Geschwindigkeit bei der Errichtung von LNG-Terminals nicht pauschal auf andere Infrastrukturprojekte übertragbar sei.

Wie die Transformation finanziert werden solle, dazu gingen die Meinungen auseinander. Prof. Dr. Jens Südekum von der Universität Düsseldorf befürwortete in seinem Vortrag, etwaige Sondervermögen angesichts der Beschränkungen durch die Schuldenbremse möglichst flexibel einzusetzen. Die Herausforderung der Transformation bestehe darin, dass hier massiv in einen neuen, grünen Kapitalstock investiert werden müsse, ohne dass dieser notwendigerweise „produktiver“ sei als der alte Kapitalstock – es handele sich um eine Ersatzinvestition.

Lokale Wertschöpfung verändert sich

Kontrovers wurde der Industriestrompreis diskutiert. Dabei wurde folgender Spagat deutlich: Wie kann es gelingen, Preissignale zuzulassen, zugleich aber die Industrien, die mit den langfristig erwarteten Strompreisen am Standort Deutschland wettbewerbsfähig werden produzieren können, durch einen „Brückenstrompreis“ am Standort zu halten? Veronika Grimm verwies in diesem Kontext darauf, dass auf Wasserstoff umgerüstete Gaskraftwerke zunächst sehr teuer sein werden. Von Seiten der Politik wurde angeführt, dass es durchaus sinnvoll sei, bei kurzfristig hohen Energiepreisen Entlastungen vorzunehmen, um zu verhindern, dass aufgrund temporärer Entwicklungen langfristige Entscheidungen getroffen werden und beispielsweise Unternehmen abwandern.

Zugleich wurde thematisiert, dass deutsche Unternehmen womöglich künftig mehr energieintensive Produkte importieren würden; nicht alle Grundstoffindustrien könnten in Deutschland gehalten werden. Unklar sei, auf welcher Stufe der Wertschöpfungsketten künftig Importe stattfinden würden. Den Import von Endprodukten gelte es nach Möglichkeit zu verhindern.

Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramtes, begrüßt die Gäste

Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramtes, begrüßt die Gäste



Prof. Dr. Veronika Grimm im Gespräch mit Dr. Philipp Nimmermann, Staatssekretär im BMWK (links), und Dr. Jörg Kukies, Staatssekretär im Bundeskanzleramt

Prof. Dr. Veronika Grimm im Gespräch mit Dr. Philipp Nimmermann, Staatssekretär im BMWK (links), und Dr. Jörg Kukies, Staatssekretär im Bundeskanzleramt

Direktzahlungskanal etablieren

Auf breite Zustimmung traf die Forderung, schnellstmöglich einen Direktzahlungskanal an die Bürgerinnen und Bürger zu etablieren und damit die Möglichkeit zu schaffen, ein Klimageld im Sinne eines Ausgleichs an die Bürgerinnen und Bürger auszuzahlen – etwa aus den Einnahmen der CO2-Bepreisung. Leonie Gebers, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, bekräftigte, dass an der Einrichtung eines solchen Direktzahlungsmechanismus, der auch im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, intensiv gearbeitet werde.

Kontrovers diskutiert wurde, ob ein Klimageld eine verteilungspolitische Komponente enthalten sollte: Die Vorschläge umfassten die Bandbreite von einer Kopfpauschale über eine sozial ausgestaltete Pauschale bis hin zu einer Differenzierung nach Betroffenheit von erhöhten CO2-Preisen. Kritiker der sozialen Komponente beim Klimageld argumentierten, es sei Aufgabe des Steuersystems, für sozialen Ausgleich zu sorgen. Christian Bayer (s. u.) zeigte, dass die Betroffenheit z. B. in Bezug auf Heizkosten weniger vom Einkommen als von Lebensumständen abhängig ist. Befürworter einer sozialen Staffelung hielten entgegen, dass ein Klimageld vor allem Investitionsspielräume für klimafreundliches Verhalten schaffen sollte. Solche Spielräume seien insbesondere bei Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen kaum vorhanden.

Lehren aus der Energiekrise

Prof. Dr. Moritz Schularick, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, und Prof. Dr. Christian Bayer von der Universität Bonn blickten auf die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zurück. Beide kamen zum Ergebnis, dass die Krise im Endeffekt handhabbar gemacht wurde.

Schularick betrachtete in seinem Vortrag die Reaktionen von Haushalten und Unternehmen auf den Energiepreisschock des letzten Jahres. Der stark negative Effekt auf die Industrieproduktion, den manche erwartet hatten, blieb aus. Während die Industrie ihren Gasverbrauch von April 2022 bis März 2023 um mehr als 20 Prozent gesenkt habe, sei die Produktion im selben Zeitraum sogar leicht angestiegen. Dies sei kein rein deutsches Phänomen: Eine substanzielle Korrelation zwischen Industrieproduktion und Gasnachfrage scheine es auch in anderen europäischen Ländern nicht gegeben zu haben (siehe Abbildung 2). Zu beobachten waren zugleich höhere Importe in den energieintensiven Industriezweigen; teure inländische Güter seien so zu einem gewissen Grad substituiert worden. Diese Importsubstitution habe negative Kaskadeneffekte verhindert und wie eine Versicherung gewirkt; dies zeige den hohen Wert offener Märkte. Er betonte auch, dass die energieintensiven Industrien in Deutschland lediglich 3 Prozent der Wertschöpfung ausmachten und zudem kein Wachstumsmotor seien.

ABBILDUNG 2: VERÄNDERUNGEN DER PRODUKTION IM VERARBEITENDEN GEWERBE UND DES INDUS TRIELLEN GASVERBRAUCHS, 2022-04 BIS 2023-03 Bild vergrößern

Quelle: Vortragsfolien Prof. Dr. Moritz Schularick, Bruegel Natural Gas Demand Tracker und Eurostat, www.bundesregierung.de/econzeitenwende

Anja Hajduk, Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, wies in der Diskussion auf die zwischenzeitlich extrem hohen Preissprünge bei Gas und Strom hin und betonte in dem Zusammenhang die positive Wirkung der Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung auf die Planungssicherheit bei den privaten Haushalten und den Unternehmen.

Schularick führte aus, ein Gasembargo gegen Russland im Frühjahr 2022 wäre zu verkraften gewesen: So seien zwischen April und August 2022 lediglich 100 TWh russisches Gas importiert worden. Auch ohne diese Menge wären die Gasspeicher am Ende des Winters noch zu 25 Prozent gefüllt gewesen (60 TWh). In der Diskussion wurde auf die sehr hohe Unsicherheit hingewiesen, unter der politische Entscheidungen kurz nach Kriegsausbruch hätten getroffen werden müssen. Zudem wurde darauf verwiesen, dass politische Entscheidungen auch Signalwirkung haben und ein Gasembargo Unsicherheiten hätte verstärken und Erwartungen negativ beeinflussen können.

Bayer stellte in seinem Vortrag Analysen zur Wirkung der verschiedenen Entlastungspakete der Bundesregierung zur Bekämpfung der Gaspreiskrise im vergangenen Jahr vor. Die Herausforderung habe im Spagat zwischen Lenkungs- und Verteilungswirkung bestanden. Ziel der Entlastungen sei gewesen, den Einkommenseffekt des Preisanstiegs auszugleichen, ohne den Substitutionseffekt (Sparanreiz) auszuschalten. Bayer führte aus, dass es bei den Heizausgaben eine breite Streuung gebe. Dabei zeige sich, dass diese Streuung relativ unabhängig vom Einkommen sei: So fänden sich in allen Einkommensgruppen Haushalte mit hohen, mittleren und niedrigen Heizausgaben (siehe Abbildung 3). Mehr als vom Einkommen (vertikal) würden diese Ausgaben von der Wohnform und dem Modernisierungsstand des Hauses (horizontal) abhängen. Dementsprechend hätte eine von den Heizkosten unabhängige Entlastung manche Haushalte zu stark und andere Haushalte zu wenig entlastet. Die Wirkung der Gaspreisbremse, die im Zweifel auch hohe Einkommensgruppen mit hohen Heizausgaben entsprechend entlastet, zielte daher vor allem auf die horizontale Fairness ab. An sich gleiche Haushalte sollten auch gleich durch die Krise belastet sein. Dieser Punkt wurde im Anschluss an den Vortrag kontrovers diskutiert. Es wurde von Seiten der Politik darauf verwiesen, dass in Krisensituationen schnelles Handeln erforderlich sei und für eine stärkere Differenzierung von Entlastungsmaßnahmen in einem solchen Fall schlicht die Zeit fehle. Leonie Gebers, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, verwies darauf, dass das Einkommen nach wie vor zentraler Faktor für die Bedürftigkeit sei.

Einigkeit bestand am Ende, dass der fruchtbare Austausch zwischen Wirtschaftswissenschaft und Politik dringend fortgeführt werden sollte – Themen gibt es genug.

ABBILDUNG 3: HEIZKOSTEN PRIVATER HAUSHALTE (GAS) IN € NA CH EINKOMMENSQUINTIL, ANNUALISIERT EVS 2019, MITTELWERTE UNTENSTEHEND Bild vergrößern

Quelle: Vortragsfolien Christian Bayer, www.bundesregierung.de/econzeitenwende

KONTAKT & MEHR ZUM THEMA

Referat: IA1 – Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik

schlaglichter@bmwk.bund.de

Die Präsentationen der Vortragenden stehen öffentlich zum Download bereit unter:
www.bundesregierung.de/econzeitenwende